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Erste Schritte

John Burnside: So etwas wie Glück

„Als sich der Krebs zurückmeldete, überraschte mich das nicht.“ John Burnside weiss offensichtlich um die Wichtigkeit des ersten Satzes, denkt es so in mir. Der gerade zitierte leitet „Die Kälte draussen“ ein und ist meines Erachtens der gelungenste erste Satz, der in diesem Band versammelten zwölf Geschichten.

„Die Kälte draussen“ handelt von Bill, der mit einem Tanklastwagen Melasse an die Bauern liefert, wohl seine letzten Weihnachten vor sich hat und, auch wenn verheiratet und Vater einer in Kanada verheiraten Tochter ist, ein Einzelgänger ist. Der nahe Tod macht ihn sensibler für den Alltag, was John Burnside sehr eindrücklich beschreibt. Obwohl er eigentlich keine Tramper mitnimmt, lädt Bill eine verletzte Person ein, die er zuerst für eine Frau hält, die sich jedoch als Mann entpuppt, einzusteigen. „Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, verstand ihn aber dennoch. Was er meinte, war, dass er nicht anders konnte.“ Eine perfekte Geschichte darüber, dass jeder für sich alleine lebt. Bill gehört zu denen, die sich darüber nicht beklagen, sondern es einfach konstatieren.

Die zweite Geschichte „So etwas wie Glück“ handelt von der jungen Bankpraktikantin Fiona, deren Schwester mit dem aufbrausenden, gewalttätigen Stan liiert ist, der seinen Bruder wegen eines Pullovers halb zu Tode schlägt und deswegen im Gefängnis landet. Warum diese düstere Geschichte voller Vorahnungen diesen Titel trägt, hat sich mir nicht erschlossen, doch sie zeichnet sich aus durch ganz wunderbare Stimmungsbeschreibungen. „Die Kunden kamen mit Mänteln und Handschuhen in die Bank, schüttelten sich an der Tür die Flocken von den Schultern und aus dem Haar, lächelnd, gut gelaunt dank dieses strahlenden Tages. Man konnte das Kind in jedem Gesicht erkennen, ein begrabenes Leben, das wieder auferstand, etwas Helles um Mund und Augen, eine kindliche Lieblichkeit, die in ausgetrocknete Stimmen zurückkehrte.“

Wobei: Vom Glück ist in diesem Band natürlich auch die Rede. Hier nur zwei Hinweise. Einmal das wunderbare Bonmot Le bonheur est une fleur qu’il ne faut pas cueillir. Und dann das hilfreiche Geständnis, „es hat nämlich lächerlich lang gedauert, bis ich begriff, dass das Glück etwas viel Einfacheres ist, als ich anfangs glaubte.“

„Fügung“, die dritte Geschichte, spielt am Ende der Kindheit („Wir wollten die Welt – und wir bekamen eine sterbende Bergarbeiterstadt, in der sich nichts ändert ausser dem Wetter.“): Ein Bub, ein Aussenseiter (seine eigene Gesellschaft ist ihm am liebsten), beobachtet seine Umwelt und speziell ein Paar, das keins sein durfte und sich deshalb heimlich traf. Vor allem faszinierend fand ich die Gedanken, die sich der Bub, der wie alle aufgeweckten Buben voller Fragen ist, so macht. „Es heisst, man hat Glück, wenn man sich kaum erinnert. So lebt man vor allem in der Gegenwart. Erinnerungen verwirren nur, da einem die Vergangenheit stets schöner erscheint und man darunter leidet, dass man sie nicht zurückholen kann.“ Oder: „Vor einigen Jahren hatte ich was mit einer Frau, die angeblich ein fotografisches Gedächtnis besass, und da habe ich mich gefragt, wie das ist: Bleiben die Erinnerungen reglos und starr, unveränderlich wie Schnappschüsse im Familienalbum? Sie sagte, sie könne es nicht beschreiben. Mir jedenfalls nicht.“ Wunderbar! Wie auch John Burnsides Überlegungen zum Schicksal, dem wir ziemlich egal sind und das nach sehr eigenen, überaus rätselhaften Gesetzen unterwegs ist.

Von den Sehnsüchten eines 14Jährigen, schreibt er. Und von Beziehungen, die mit So etwas wie Glück so ziemlich gar nichts zu tun haben. Eine Frau, die sich vor ihrem ständig vor Wut explodierenden (wegen nichts und wieder nichts) Mann fürchtet. Seine gewalttätige Natur und ihre Angst sind fast mit Händen zu greifen. Und von einem Polizisten, der einen Mann, der im Schnee unterwegs ist, nach Hause bringt. „Und obwohl ich derjenige bin, der sie noch alle beieinander hat, komme ich mir wie ein Trottel vor, wenn ich mit ihm rede.“

John Burnsides Geschichten bleiben einem im Gedächtnis haften. Weil da ein nachdenklicher und sensibler Mann davon erzählt, dass diejenigen, die nicht ins gängige Schema passen, womöglich Zugang zu einer Welt haben, die den sogenannten Normalos verschlossen bleibt. Und weil er eindrücklich davon zu berichten versteht, wie ein einzelner Moment eine lebensbestimmende Macht erlangen kann. Besonders gut gelingt ihm überdies, die Unbeholfenheit der Jungs gegenüber den Mädels darzustellen. Wunderbar auch, wie er die Pfuhlschnepfen beobachtet. „Man sah ihnen an, dass sie unablässig auf Gefahren achteten, trotzdem taten sie, als gehörte ihnen die Welt, stelzten über den Strand, die Flügel auf dem Rücken gefaltet, von sich eingenommen wie altmodische Bankiers, die ihren Verdauungsspaziergang machen.“

Fazit: Berührende Geschichten, die starke Bilder (und das meint: intensive Gefühle) zurücklassen.

John Burnside
So etwas wie Glück
Geschichten über die Liebe
Penguin Verlag, München 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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2 Kommentare

  1. Das haben Sie schön geschrieben. Ich hatte vor vielen Jahren mal ein Seminar zu John Burnside und fand seine Themen nach einigen Büchern doch ziemlich ausgereizt. Die scheinen sich auch hier wiederzufinden, aber ihre Zitate machen Lust, sich dem Ganzen nochmal zuzuwenden.

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