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Mark Bergen: YouTube. Die globale Supermacht

Für die meisten Leute, zu denen auch ich zähle, ist YouTube eine mehr oder weniger nützliche Informations- und Unterhaltungsquelle. Nur eben: YouTube ist viel mehr als das. Der Journalist Mark Bergen klärt mit YouTube. Die globale Supermacht anhand von umfangreichem Material darüber auf, wie die digitale Öffentlichkeit funktioniert.

Die drei jungen Männer in den Zwanzigern, die YouTube initiierten, waren so begabt wie eigensinnig. Es ist dies ein allgemeines Phänomen: Die Angepassten mit den guten Noten eignen sich eher als Verwalter, denn als Entdecker/Entwickler. Von den drei enthusiastischen Gründern ist keiner mehr dabei.

Dass da plötzlich jeder jederzeit gratis ein Video hochladen konnte, war zuerst einmal vor allem aufregend. Und dass visionäre Amateure dafür verantwortlich waren, war ausgesprochen erfreulich, hatte aber auch eigenartige Nebeneffekte, denn es führte unter anderem zu ganz neuen Branchen wie etwa dem Influencer-Marketing oder den Tutorials.

Der Mensch ist was er tut bzw. womit er sich beschäftigt. Mehr als fünfhundert Stunden Videomaterial werden pro Minute auf YouTube hochgeladen. Mit anderen Worten: YouTube, gesteuert von Algorithmen und Profitmaximierung, beeinflusst in einem ausserordentlichen Mass was – und wie – wir die Welt sehen.

Technische Neuerungen bringen selten nur Gutes hervor, sondern werden regelmässig von einschlägig interessierten Interessensgruppen für ihre Zwecke instrumentalisiert. „Rechtsgerichtete Christen wollten das Internet restlos von Pornografie und anderen Sünden befreien, Verfechter der freien Marktwirtschaft wollten weniger Einschränkungen für den Online-Handel, und Medienlobbyisten setzten sich für den Schutz von geistigem Eigentum ein.“ Paradiesische Zustände für Rechtsanwälte.

Als Google die Video-Plattform übernahm, wollte der kalifornische Technologie-Gigant es vermeiden, anderen Ländern Googles Werte und Normen aufzuzwingen (aus wirtschaftlichen und nicht etwa aus ethischen Gründen), doch eine unüberschaubare, babylonische Videoplattform zu kontrollieren, war eine kaum zu bewältigende Herausforderung, da die einzelnen Staaten ganz eigene Vorstellungen hatte, was bei ihnen erlaubt war uns was nicht. Was tat man etwa, falls Indien, wo Homosexualität strafbar ist, verlangen würde, LGBTQ-Videos zu sperren? Tim Wu, Juraprofessor an der Columbia University: „Man muss Google auf die gleiche Weise vertrauen, wie die Menschen früher ihrem König vertrauten.“ Vielleicht doch lieber nicht.

Im Laufe der Zeit tauchten auch immer mehr Fälschungen auf YouTube auf. Wie bei Fotografien ist auch bei Videos nicht immer leicht zu erkennen, ob die Bilder die Wirklichkeit abbilden.Neben den Fake-Videos nahmen auch die Fake-Kommentare zu. Die Versuche, das System (ja so recht eigentlich jedes System, man denke etwa an Verkehrsregeln) zu überlisten, sind dermassen gängig, dass man sich gelegentlich fragt, was mit den Menschen eigentlich nicht stimmt. Egal, was es ist, es wird immer einige geben, die querschiessen.

Aufschlussreich wenn auch wenig überraschend sind auch die vielfältigen Informationen darüber, wie man natürlich sofort versuchte, mit diesen Einschaltquoten Geld zu machen. So habe ich zum Beispiel gelernt, wozu Cookies verwendet werden bzw. was Cookies eigentlich sind, nämlich „versteckte Code-Fragmente, die man bei jedem Seitenaufruf unbemerkt aufsammelte und die sich sozusagen merkten, auf welchen Seiten man gesurft hat. Man stöberte auf ein paar Websites über Inneneinrichtung, öffnetet dann eine Nachrichtenseite, und zack: überall bunte Banner mit Werbung für Möbel. Dafür sorgten Cookies.“

Zu den populären journalistischen Formen gehört das Storytelling, dessen sich auch Mark Bergen ausgiebig bedient: Er zeigt anhand von Einzelpersonen wie YouTube sich entwickelt hat. Der Vorteil dabei: Das Buch liest sich flüssig; der Nachteil: der grössere Zusammenhang bleibt aussen vor bzw. geht dabei fast unter. Der grössere Zusammenhang in Sachen YouTube ist, dass die Basis des Kapitalismus die Gier ist und diese bestimmt so recht eigentlich das Schicksal von allen, die in dieser Maschinerie landen. Zum grösseren Zusammenhang gehört aber auch, dass diejenigen wie etwa Steve Jobs, die die Technologie vorantreiben, am weitaus besten um die Gefahren wissen.

„Angeblich gewährte Steve Jobs seinem Nachwuchs kaum Zugang zu moderner Technologie. Wie Jobs verbrachten die Angestellten von YouTube Stunden damit, Code und Geschäftspläne zu überprüfen, mit denen die Nutzer möglichst lange auf der Seite gehalten werden sollten, bevor sie nach Hause gingen und ihren Kindern befahlen, YouTube auszumachen.“

YouTube. Die globale Supermacht erzählt eine verrückte und turbulente Geschichte. Klare Regeln, was auf der Video-Plattform erlaubt ist und was nicht, gibt es nicht wirklich. Dazu kommt, dass die gegenwärtig gültigen Regeln nicht in Stein gemeisselt sind und von Land zu Land variieren können. Wie in allen anderen Branchen auch, wurstelte man drauflos – das Unternehmen wurde zunehmend zur Spielwiese bzw. zur Arena für grosse Egos. Es ist ein Kennzeichen der modernen Welt, dass es vor allem unangenehme Typen (Männer wie Frauen) an die Spitze schaffen, denn seelisch und geistig Gesunde tun sich diese Rangeleien schlicht nicht an.

YouTube. Die globale Supermacht ist auch eine Geschichte über unsere Zeit, in der Alles und Jedes zum Geschäft gemacht wird, was vermutlich den meisten schon gar nicht mehr auffällt. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, meinte einst Bertolt Brecht. Heute müsste das heissen, erst kommt die Gier und das war’s dann auch schon. Anders gesagt: Weitestgehend unregulierte Medien zeigen uns Abgründe, vor denen uns so recht eigentlich grausen müsste.

Mark Bergen
YouTube. Die globale Supermacht
Wie Googles Videoplattform unsere Weltsicht dominiert
Droemer, München 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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