Wolfgang Hagen (1950-2022) war Professor für Medienwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. Bei diesem Werk handle es sich um „die Fokussierung auf die Leerstellen und Nullstellen der neuzeitlichen Philosophie-, Technik-, Kunst-, Medien- und Materialgeschichte“, lese ich und in mir denkt es: Ups, da habe ich mir ganz etwas anderes vorgestellt, nämlich eine witzige, skurrile Abhandlung über das Wesen des Lochs. Wobei: Das ist dieses Werk ab und zu auch. Und trotzdem habe ich ein Problem damit. Das liegt an der akademischen Ausdrucksweise, die ja vor allem den Zweck hat, die Fachfremden draussen zuhalten. Konkret: Wenn Kurt Tucholsky das Loch als „Grenzwache der Materie“ beschreibt, verstehe ich das; wenn diese höchst gelungene Formulierung jedoch als „die präziseste gestalttheoretische Beschreibung des Lochs“ und als „seine semiotisch-ikonografische Paradoxie literarisierend“ bezeichnet wird, weiss ich, dass ich nicht zum Zielpublikum gehöre. Mit anderen Worten: Keine Chance, dass ich diesem Werk auch nur annähernd gerecht werden könnte – einige Eindrücke müssen genügen.
Immer mal wieder anregend und mich zum Schmunzeln bringend ist Das Loch zweifellos. „Wird zwischen Loch und Öffnung unterschieden, dann wäre das A…loch kein Loch, denn es lässt sich schliessen und öffnen.“ Oder: „Phänomenologisch sind Löcher ein Etwas und ein Nichts zugleich. Sind sie wie das was sie umgibt, also z.B. Käse oder Höhlen, oder sind sie das gerade nicht?“ Oder: „Entgegen so mancher Kolportage des Höhlengleichnisses sei festgehalten: Bei Plato gibt es kein Loch, sondern einen Balken und dahinter ein Feuer.“
Wolfgang Hagen scheint ein Mann von grenzenloser Neugier gewesen zu sein; seine intellektuelle Bandbreite ist beeindruckend – und würde mich vermutlich einschüchtern, wenn ich einen Zugang zu den Wissensgebieten hätte, die ihn offenbar umgetrieben haben.
Auch wenn ich den meisten Gedankengängen nicht zu folgen imstande bin, da diese meinem Hirn bzw. der Art wie es nun mal funktioniert, verschlossen sind, stosse ich nichtsdestotrotz auf Auffassungen, die ich so noch nie gedacht und deswegen als bereichernd empfunden habe. Etwa dass Heidegger die neuzeitliche Technik als „Anmassung einer Metaphysik, die sich nur an die Stelle eines weltschaffenden Schöpfers setzen will“ kritisierte.
Zugang hatte ich vor allem zu Hagens Ausführungen über Tucholsky, der Hitler kommen sah, und auch geschrieben hat, Löcher auf Reisen gebe es nicht. Falsch, meint Wolfgang Hagen, auch wenn das zu Tucholskys Zeiten so gewesen ist, denn: „Heute aber durchqueren ‚Löcher auf Reisen‘ das Silizium aller unserer Computerchips, quadrillionenfach jede Sekunde.“
Verblüffend und faszinierend zugleich ist, dass Löcher offensichtlich allgegenwärtig sind. So arbeitet etwa das Fernsehen mit Löchern, „nämlich mit zwei sich synchron drehenden Loch-Scheiben“, und auch den Transistor, „heute myriadenfaches Schaltelement in allen Computern auf der Welt, gäbe es nicht ohne dieses Loch.“
Mein spezielles Interesse gehört der Fotografie, weshalb mich denn auch die Schilderungen rund ums Bild besonders angesprochen haben. In Erinnerung gerufen hat mir Wolfgang Hagen unter anderem, dass das erste bekannte Foto von Niépce aus dem Jahre 1826 keine Menschen zeigte. „Niépce erlebte die pompöse Einführung der Fotografie durch die Académie française im September 1839 nicht mehr und musste deshalb alles seinem technisch unbegabten, aber geschäftstüchtigen Gönner Louis Daguerre überlassen.“
Schon damals also regierten die Geschäftstüchtigen. Und schon damals gab es Widerstand gegen die Maschinisierung und Technisierung des Blickes auf die Welt. So bezeichnete Baudelaire 1859 „die fotografische Industrie (als) die Zuflucht aller gescheiterten Maler (…) der Unbegabten und der Faulen.“ Was auf den ersten Blick einleuchten mag, verkennt jedoch, dass bei der Malerei alles von Grund auf gestaltet werden muss, während es bei der Fotografie darum geht, das bereits Vorhandene einzurahmen.
Fazit: Das Loch weitet den Horizont.
Wolfgang Hagen
Das Loch
Merve Verlag, Leipzig 2022