Dass Alexander McCall Smith, emeritierter Professor für Medizinrecht an der Universität Edinburg, Träger von dreizehn Ehrendoktorwürden sowie Verfasser von über achtzig Romanen, einen Kriminalroman über einen talentierten Kriminalpolizisten namens Ulf Varg schreibt, der in Schweden lebt, ist irgendwie naheliegend, weil der Autor selber ein überaus talentierter Mann ist, der lange in Botswana gelebt hat, und man sicher von ihm auf den Kommissar, zumindest teilweise, schliessen darf. Schliesslich schreibt doch der Mensch hauptsächlich von dem, was er kennt – also von sich selber.
Es ist in jeder Hinsicht zu begrüssen, dass Alexander McCall Smiths Motto – „Ich setze auf die fröhlichen Seiten des Lebens!“ – auch in diesem Werk auf vielseitige Art und Weise zum Tragen kommt. Das beginnt schon bei seinem ersten Fall, bei dem ein Priester einem Vertreter des Fahrenden Volkes eine blutige Nase schlägt und dafür auch verurteilt wird, obwohl keiner der fünfzehn Zeugen den Vorfall bestätigen wollte. Nur dass sich dann herausstellt, dass die Dinge ziemlich anders gewesen waren …
Das Dezernat für heikle Fälle, bei dem Herr Varg angestellt ist, hat bei den Kollegen keinen einfachen Stand, da sie der Auffassung sind, so recht eigentlich seien alle Fälle heikel. Das Dezernat teilt diese Auffassung und weist denn auch die eingehenden Fälle meist anderen Dezernaten zu, da sie zu wenig heikel sind. Dieser Auswahlvorgang hält das ganze Dezernat für heikle Fälle vollauf beschäftigt.
Der ledige Ulf Varg besitzt einen Abschluss in Kriminologie sowie einen hörgeschädigten Hund, der imstande ist von den Lippen zu lesen. Zu Beginn dieses Kriminalromans befindet er sich auf dem Weg zu einer eintägigen Psychotherapieveranstaltung in einem Wellnesscenter auf dem Land zum Thema „Löse deine Vergangenheit“. Einer der Teilnehmer bei der Gruppentherapie kämpft mit seinen Impulsen – und verlässt dann aus einem Impuls heraus die Gruppe.
Varg ist nicht nur ein aufmerksamer Beobachter, er macht sich auch über vieles Gedanken, womit sich die meisten selten bis gar nie beschäftigen. Über die Installationskunst etwa, die er für „rein zufällige Ansammlungen von Gegenständen“ hält, die regelmässig von Raumpflegerinnen, den Vertretern „einer Ästhetik des gesunden Menschenverstands“, als Abfall entsorgt wird. Oder über Sportreporter einer Zeitung, die sich ausführlich über ein geschossenes Tor ereifern konnten, obwohl es da ja so recht eigentlich nicht wirklich viel zu sagen geben sollte.
Der talentierte Herr Varg ist ein höchst amüsantes Buch, bei dem die Absurditäten des Alltags nicht zu kurz kommen, sei es, dass Ingenieure über die Instabilität von Brücken diskutieren, sei es, dass die Auswüchse der Bürokratie aufs Korn genommen werden, sei es, dass die Moderaten Extremisten (dessen Vorsitzender Ulfs eigener Bruder, Björn Varg, ist) dafür plädieren, mehr Hunde auszubilden, die mehr Menschen beissen – natürlich nur die, die es verdient haben.
Man kann den Ausuferungen der Politischen Korrektheit so recht eigentlich nur mit Humor begegnen. Zum Beispiel indem man darauf hinweist, dass Vorschläge, die die Polizei dazu auffordern, weniger aggressive Hunde – also etwa Dackel oder Pudel – einzusetzen, offenbar nicht bedenken, dass eine gewaltfreie Polizei vor allem von gewaltbereiten Kriminellen geschätzt werden würde. Anders gesagt: Der talentierte Herr Varg ist auch ein aufklärendes Werk, dessen Autor sich nicht zuletzt wundert, dass Leonard Cohen von seiner Suzanne offenbar Orangen erhält, „die den weiten Weg aus China gekommen sind.“
Der talentierte Herr Varg ist zudem ein ausgesprochen realistisches Buch, das unter anderem auch von einem Kurs mit dem Titel „Stressbewältigung am Arbeitsplatz“ berichtet, der dann vierzig Minuten überzogen wird, was dazu führt, dass man wegen es einsetzenden Feierabendverkehrs gestresster nach Haus kommt als an anderen Tagen.
Wir leben ja bekanntlich in aktiven Zeiten, in denen wir ständig psychologisch analysiert werden. Sehr schön bringt es Alexander McCall Smith auf den Punkt: „Heutzutage stehen alle unter dem Druck, etwas zu tun. Wenn man nicht irgendwas tut, wird einem vorgeworfen, nichts zu tun.“
Der talentierte Herr Varg ist reich an ganz vielen, ausgesprochen skurrilen Geschichten – Varg, der dem Mann seiner Kollegin Anna hinterher spioniert, weil er sich in sie verguckt hat; Schwedens berühmtester Schriftsteller, der anscheinend etwas zu verbergen hat und deswegen angeblich erpresst wird; ein Betrüger, der Hunde als Wölfe verkauft – , doch es sind vor allem McCall Smiths oft bizarre Alltagsbeobachtungen, die dieses Werk auszeichnen und mich ständig zum Lachen bringen. Dazu kommt, dass man auch einiges lernt: Ich jedenfalls wusste nicht, dass schwedische Hunde als anfälliger für Depressionen gelten als ihre südländischen Artgenossen.
Anstelle von psychologischen Ratgebern sollte man Der talentierte Herr Varg lesen. Weil es vergnüglicher ist. Aber auch wegen Sätzen wie diesen: „Narziss war ein Teenager. Das vergessen wir gern.“
Alexander McCall Smith
Der talentierte Herr Varg
Neues aus dem Dezernat für heikle Fälle
Knaur, München 2022