Der Einstieg in Die Vereindeutigung der Welt könnte gelungener und packender gar nicht sein, denn „Alles so schön bunt hier“, wie Nina Hagen einst gesungen hat, ist es ja heutzutage wirklich, aber eben nur, wenn man nicht genau hinschaut. Tut man das, entpuppen sich etwa die zahllosen Fernsehprogramme, auf die sich Hagen in ihrem Song „TV-Glotzer“ bezog, als ziemlicher Einheitsbrei, als Scheinvielfalt. Der Untertitel „Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ bringt auf den Punkt, worum es in diesen differenzierten und gelehrten (Thomas Bauer, der Autor, ist seit 2000 Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster) Ausführungen geht.
Die Vielfalt nimmt ab. Auch in der Natur ist sie in gewissen Bereichen weit geringer als wir gemeinhin annehmen. So ist der Vogelbestand seit 1800 bis heute um 80 Prozent zurückgegangen, werden von den einstmals 30 000 Maissorten nur noch ein Dutzend davon in grösserem Stil angebaut und auch die Sprachen gehen zurück. „Die Gesellschaft für bedrohte Sprachen stellt fest, dass fast 1/3 der ca. 6500 weltweit gesprochenen Sprachen ‚innerhalb der nächsten Jahrzehnte aussterben‘.“
Das menschliche Gehirn ist binär unterwegs, unterteilt automatisch in Gut und Böse, Oben und Unten, Schwarz und Weiss. Kurzum: es reduziert Komplexität, spiegelt Eindeutigkeit vor, wo Uneindeutigkeit herrscht. „Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.“
Automatisch kommt mir Janet Malcolms Zitat eines Geschworenen, das ihrem Iphigenia in Forest Hills vorangestellt ist, in den Sinn: „Everything is ambiguous in life except in court.“ Wir versimplifizieren, weil die Komplexität der Welt uns überfordert. Das Problem ist nur, dass „es eine Welt ohne Ambiguität gar nicht geben kann.“ Wie unterschiedlich Kulturen und Religionen im Laufe der Geschichte damit umgegangen sind, zeigt Professor Bauer an zahlreichen erhellenden Beispielen und begrüsst dabei, wie unter Akademikern üblich, auch Kollegen. „Was wir heute erleben, lässt sich, um einen Ausdruck des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr zu gebrauchen, als Verlust der Mitte bezeichnen, und dies ist schlicht das Resultat eines drastischen Verlustes an Ambiguitätstoleranz.“ Für eine solche Erkenntnis braucht es nun wahrlich keinen Kunsthistoriker.
Ganz wunderbar dann das Kapitel Kunst und Musik auf der Suche nach Bedeutungslosigkeit (treffender kann ein Titel kaum sein!), worin der Autor aufzeigt, was Propaganda, Kapitalismus und Gleichgültigkeit heutzutage alles zustande bringen. Nicht wenig gestaunt habe ich, dass die CIA Künstler wie Jackson Pollock und Mark Rothko (ohne deren Wissen) gezielt förderte. So organisierte und finanzierte die CIA Ausstellung um Ausstellung, nahm Einfluss auf Museen und lancierte Zeitschriftenartikel, um dem Abstrakten Expressionismus zum Durchbruch zu verhelfen. Und weshalb tat die CIA das? Weil bedeutungsarme Kunst zur Waffe im Kalten Krieg wurde. Und mit dem Abstrakten Expressionismus, dessen Kunstwerke als solche nichts bedeuteten, war das ideale Gegenstück zum Realistischen Sozialismus gefunden, der sich, wie Ideologien generell, durch Eindeutigkeit auszeichnet.
„Wenn sich Qualitätsunterschiede nicht mit eindeutigen Kriterien feststellen lassen, dann scheint es einfacher zu sein zu sagen, es gebe gar keine Qualitätsunterschiede, als über nicht leicht zu präzisierende, aber dennoch vorhandene Qualitätsunterschiede nachzudenken. Hier sei dagegen daran festgehalten, dass es Qualitätsunterschiede gibt, dass etwa ein Schlager-Tralala nicht dieselbe Qualität hat wie der eingangs erwähnte Punksong der Nina Hagen und dass beide wiederum andere Qualitäten haben als etwa ein Streichquartett von Alban Berg.“ Völlig einverstanden, doch auf welchen (auch uneindeutigen) Kriterien gründet jetzt dieser Qualitätsbegriff?
Höchst anregend auch des Autors Ausführungen zum Authentizitätswahn, der vor so ziemlich gar nichts mehr Halt macht und vom authentischen Wein bis zur authentischen Politik reicht. „Aber passen Authentizität und Demokratie überhaupt zusammen? Tatsächlich können Politiker in Demokratien gar nicht authentisch sein. Sie müssen Kompromisse schliessen, sie müssen im Interesse des Gemeinwesens oder der Partei auch Positionen vertreten, die nicht ihre Herzenspositionen sind, diplomatisch auftreten und Dinge sagen und tun, die sie ausserhalb ihrer Rolle als Politiker nicht sagen oder tun würden.“ Obwohl ich diese Auffassung teile, halte ich sie angesichts des gegenwärtigen gesellschaftlichen Klimas für lebensfremd. Vielleicht war Politik ja einmal so (jedenfalls wurde sie uns so vermittelt), wirklich sicher bin ich mir da jedoch nicht. Heutzutage ist sie jedenfalls garantiert nicht so. Und auch Thomas Bauer konstatiert: „Es kann aber kaum Zweifel darüber geben, dass Authentizität immer mehr als höchstes Ideal geglaubt wird.“ Das Resultat sind authentische Trottel in Ämtern, die nicht für sie gedacht sind.
Die Vereindeutigung der Welt ist ein eloquentes Plädoyer für Ambiguitätstoleranz, das nicht zuletzt deswegen überzeugt, weil es viele überraschende Zusammenhänge aufzeigt und vorführt, wie man auch mit Komplexität umgehen kann: Indem man genau hinschaut, sich Zeit nimmt und nachdenkt.
Thomas Bauer
Die Vereindeutigung der Welt
Reclam Verlag, Ditzingen 2018