Wir leben in Zeiten, in denen weltweit derart viele Informationen zirkulieren, dass die Vorstellung, jemand könnte noch irgend etwas Ähnliches wie einen Überblick haben, geradezu grotesk erscheint. Um nicht vollständig in dieser ungeheuren Informationsflut zu ersaufen, muss unser Gedächtnis den sich immer schneller ansammelnden Müll immer schneller entsorgen. Dabei gerät auch unter die Räder, was besser nicht vergessen werden würde. Die Akte Pegasus, zum Beispiel.
Die Spionagesoftware Pegasus wurde von der israelischen Firma NSO entwickelt. Sie ist imstande, jedes Mobiltelefon vollständig zu überwachen, ohne Spuren zu hinterlassen. NSO startete einmal als Unternehmen, das seine Grundprinzipien ernst nahm. „Wir verkaufen nur an staatliche Institutionen und mischen uns nicht in ihr Handeln ein. Und wir werden diese Institutionen überprüfen, um sicherzustellen, dass sie die Menschen- und bürgerlichen Freiheitsrechte respektieren und sich an die Gesetze und Bestimmungen halten, die auch in Israel gelten.“
Das Leben lehrt uns, dass der (finanzielle) Erfolg einen Mechanismus in Gang setzt, der nach immer mehr giert, und dass, was auch immer der Mensch erfindet, sich (auch) gegen ihn wenden wird. Dazu kommt die Kommerzialisierung, die von der Profitmaximierung angetrieben wird, und die Möglichkeiten potentiell destruktiver Anwendungen ständig vorantreibt. Wir alle sind abhängig von Handys – und damit potentiell überwachbar. Wer glaubt, er habe nichts zu verbergen, wird von denen, die etwas von ihm wollen, letztlich eines Besseren belehrt.
Die Investigativjournalisten Laurent Richard und Sandrine Rigaud (am Rande: wer als Journalist nicht investigativ unterwegs ist, ist kein Journalist), aufgeschreckt nicht zuletzt durch die Ermordung von Berufskollegen (2021 waren es 55), begaben sich auf Spurensuche. Davon handelt dieses Buch, das sich streckenweise wie ein Thriller liest – und mich künftig noch etwas illusionsloser durchs Leben gehen lässt. Ich bin froh drum, denn es sind „unsere“ Illusionen, die die Mächtigen an der Macht halten.
„Wie die Spionagesoftware, Privatsphäre, Pressefreiheit und Demokratie attackiert“, so der Untertitel, steht zwar im Mittelpunkt dieses Buches, doch ist auch davon die Rede, wie die sogenannte Politik der Interessen funktioniert, bei der es wesentlich ums Geschäften geht – und dieses betreibt man mit allen, die einem Vorteile zu verschaffen vermögen, auch mit Diktatoren, wie die Autoren unter anderem am Beispiel von Aserbaidschan aufzeigen.
Es versteht sich: Spionagesoftware ist nicht per se schlecht. „Ein Mittel, um Übeltäter im Internet zu überwachen, wenn sie ihre potentiell tödlichen Pläne entwickelten“, kann sie selbstverständlich auch sein. Nach den Attentaten in Madrid mit zweihundert Toten und nahezu zweitausend Verletzten, erklärte David Vincenzetti vom Mailänder HackingTeam die Privatsphäre für wichtig, die nationale Sicherheit jedoch für wichtiger. „Fachleute der Sicherheitsbehörden stimmten ihm zu!“, notieren Richard und Rigaud offenbar entsetzt.
Soll die Privatsphäre wirklich sakrosankt sein? Also auch die von Gewalttätern und Pädophilen? Und was bedeuten Presse- und Redefreiheit wirklich? Leider bleibt eine vertiefte Auseinandersetzung mit solchen Fragen auf der Strecke – Pressefreiheit ist in der Praxis das Recht der Medieneigentümer ihre Meinungen zu verbreiten – , stattdessen liefert Die Akte Pegasus eine Geschichte von der Front, denn die Journalisten, die sich dafür eingesetzt haben, die Welt auf die Gefahren von Pegasus aufmerksam zu machen, befinden sich im Krieg.
Zu den Kriegerinnen, deren Mut dieses Buch wesentlich geprägt hat, gehört die Reporterin Khadjja Ismayilova aus Aserbaidschan, die mit den Worten zitiert wird. „Es ist wichtig, dass die Leute Beispiele von Journalisten sehen, die nicht aufgeben, wenn sie bedroht werden. Es ist wie im Krieg. Verlässt du deinen Schützengraben, wird er von den Angreifern übernommen … Du musst deine Stellung halten, sonst wird sie dir weggenommen, und dann bleibt dir noch weniger Raum, immer weniger Raum, der Raum schrumpft zusammen, bis du nicht mehr atmen kannst.“ Und sie gibt einen sehr konkreten Ratschlag: „Tu in deinem Hotelzimmer nichts, was dir unangenehm wäre, wenn es an die Öffentlichkeit käme.“
Laurent Richard & Sandrine Rigaud
Die Akte Pegasus
Wie die Spionagesoftware, Privatsphäre, Pressefreiheit und Demokratie attackiert
Droemer, München 2023