In England lügt man nicht, in England betreibt man einen ökonomischen Umgang mit der Wahrheit. Juristen wissen, dass man sowohl aktiv als auch passiv lügen kann. Und die Bibel verheisst, die Wahrheit werde den Menschen frei machen. Ja, was denn nun? Wer auf einfache und klare Antworten hofft, kommt bei Nichts als die Wahrheit nicht auf seine Kosten – da wird stattdessen vorgeführt, wie gewitztes Denken geht.
Nichts als die Wahrheit ist ein ausgesprochen dünner Band, den als Buch zu bezeichnen sich nicht wirklich aufdrängt, auch der sehr grossen Schrift und der vielen Leerräume wegen. Kann man daraus schliessen, über die Wahrheit gebe es nur wenig zu sagen?
Autor Melchior Werdenberg, geboren 1954, „ist Jurist und passionierter Erzähler von allerlei Lügengeschichten am Rande der Realität“, lässt der Verlag wissen und so hätte man sich so recht eigentlich Ausführlicheres gewünscht als ein paar wenige Sprüche, deren Sinn sich mir nicht immer erschlossen hat – dafür waren sie spitzfindig und unterhaltsam.
Andererseits: Gute Juristen verstehen sich darauf, kurz und knapp Wesentliches herauszuschälen, sei es in der Form von Behauptungen, sei es als Fragen.Warum sie der Autor als Sinnsprüche (laut Oxford Languages, „ein Spruch oder Satz, der eine allgemein gültige Wahrheit, eine tiefere Erkenntnis enthält“) bezeichnet, ist mir tendenziell verborgen geblieben. Zum Beispiel im Falle von „Wahrheit ist Ansichtssache“ (für einen Juristen vielleicht, als Geschäftsgrundlage) oder „Wahrheit ist kein Argument“ (wer behauptet das und weshalb sollte sie es auch sein?).
Zugegeben, man sollte nicht, wie ich es getan habe, aufs Geratewohl hineinlesen, sondern den Band so angehen, wie er aufgebaut ist, also mit dem Prolog beginnen, in dem geklärt wird, wie mit den hier vorgelegten Sinnsprüchen verfahren werden soll: „Sie sind meist suggestiv und wollen nicht hinterfragt werden.“ Echt jetzt?
Nun gut, als Leser hat man den Vorteil, dass einem die Vorgaben des Autors wurscht sein können. Für mich sind Lüge und Wahrheit existenzielle Kategorien, für den Juristen Melchior Wechselberg scheinen sie hingegen wesentlich Diskussions- bzw. Unterhaltungsstoff zu sein. „Der richtige Umgang mit Wahrheit und Lüge besteht wohl darin, zu erkennen, dass die Wahrheit per se kein Argument ist, und für die Lüge, die sich als Wahrheit ausgibt, gilt das natürlich ebenso.“ Das klingt, jedenfalls in meinen Ohren, etwas arg nach alles ist relativ. Nur eben: Ist es nicht. So gibt es die Wahrheit der Geburt und des Todes. Und auch die Realität ist wahr; sie existiert, ob man an sie glaubt oder nicht. Doch wer Solches behauptet, hat noch nie mit Juristen zu tun gehabt, von denen Jurist Werdenberg zu berichten weiss: „Recht wird auch dann gesprochen, wenn sich die Wahrheit nicht finden lässt.“
Für mich liegt der Wert dieses Werkes darin, dass es mir Anstösse gibt, und zwar ganz viele. Dass sie mich meist zum Widerspruch reizen, was seinen Reiz hat, will ich für einmal vernachlässigen, stattdessen lasse ich die Rubrik „Und ein Blick auf die Justiz“ auf mich wirken, die mit dem schönen bon mot beginnt: „Im Gerichtssaal begegnen sich zwei Wahrheiten und werden ersetzt durch eine Fiktion.“ Genau so schön (und wahr) finde ich: „Jeder schwört auf Verlangen ’nichts als die Wahrheit‘ zu sagen und sagt doch, was er will.“ Der allerschönste ist jedoch dieser hier: „Quod non est in actis non est in mundo“ (‚Was nicht in den Akten ist, ist nicht auf der Welt.‘). Ob das ein Sinnspruch ist, sei dahingestellt, doch es beschreibt die erfundene Juristenwelt trefflich, zu der auch gehört, was ein Mann aus den USA, der bei der Zusammenstellung der Geschworenen nicht berücksichtigt wurde, einst geäussert hat: „Everything is ambiguous in life except in court.“ Und auch dies ist wahr!
Fazit: Vielfältig anregend, zum Widerspruch reizend.
Melchior Werdenberg
Nichts als die Wahrheit
Aber an der Lüge kommt keiner vorbei / Sinnsprüche
Elster & Salis, Zürich 2022