Vor über 30 Jahren habe ich einmal eine Journalismus-Buchreihe mit illustren Autoren wie Herbert Riehl-Heyse, Hermann Schreiber und Jürgen Leinemann herausgegeben. Deren Texte, so glaubte ich damals, seien es wert, „über den Tag hinaus“ aufbewahrt zu werden. Heutzutage bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher (obwohl ich nach wie vor stolz bin, dass es diese Bücher gibt), auch wenn viele von ihnen ausgesprochen gut gealtert sind, was auch daran liegt, dass sie häufig Grundsätzliches thematisierten, und die Autoren exzellente Schreiber waren. Bei der vorliegenden Texte-Sammlung weiss ich nicht so recht, wie ich sie ’sub specie aeternitatis‘ einschätzen soll, doch hat sie mich bestens unterhalten und einiges gelehrt – und das kann ich nur von wenigen Büchern sagen. Und überhaupt: Warum sollen Bücher eigentlich Ewigkeitswert haben?
Der etwas bemüht originelle Titel Tote und Tattoo mag ein Hinweis darauf sein, die vorliegenden Texte des 1973 geborenen Autors, unter anderem Kolumnist für ‚Titanic‘ und die Zürcher ‚WOZ‘ (eine wahrhaft gelungene Kombination!), nicht allzu ernst zu nehmen, was beim Einstiegstext ‚Schreckschraube und Wunderkind‘ recht mühelos gelingt, denn wer, ums Himmels Willen, interessiert sich schon für Sandra Maischberger oder Christiane Hörbiger? Andererseits: Die Absurdität der Fernsehunterhaltung ist selten besser geschildert worden. Dabei weist Autor Gärtner auch auf die von Hitler stammende Maxime, „eine Lüge müsse nur unverschämt genug sein, um mit Sicherheit geglaubt zu werden“ hin – sie ersetzt ganze akademische Bücherstapel zu diesem Thema.
Immer wieder schmunzelnd, manchmal auch laut heraus lachend – so erlebe ich die Lektüre. Dabei sind es hauptsächlich die Bemerkungen am Rande, die mich regelrecht begeistern. „… der FAZ-Kollege Jasper v. Altenbockum (der, nebenbei, genauso aussieht, wie er heisst)…“, trotzdem stört mich etwas ganz grundsätzlich an diesem Band: Ich mag mich nicht wirklich mit den ziemlich abseitigen Themen befassen, die mir die Massenmedienvertreter vorgeben und in die sich Autor Gärtner genussvoll und kritisch verbeisst. Wie kann man sich bloss, um ein Beispiel zu geben, mit der Rede eines Aussenministers (des Polen Radoslaw Sikorski) oder über die Frage, was Angela Merkel oder einen Spiegel-Journalisten wohl antreibt, ernsthaft auseinandersetzen? Anders gesagt: Womit man sich beschäftigt, scheint mir weit wesentlicher als wie man das tut.
„Es gehört zum Erkenntnisfortschritt der mittleren Jahre, dass Dummheit und Mittelmass sich immer durchsetzen, und Dreistigkeit tut’s sowieso.“ So isses! Allerdings ist es kein Ausweis von Durchblick, wenn man sich dann recht ausführlich mit ebendiesem wenig inspirierenden Mittelmass befasst. Andererseits: Täte Stefan Gärtner dies nicht, dann gäbe es auch diese seine Texte nicht.
Es findet sich viel Erhellendes in diesem Band, gelegentlich aber auch wenig Durchdachtes. So werden etwa die Autoren Markus Metz und Georg Sesslen mit der Aussage zitiert, die furchtbarsten Eigenschaften der Kleinbürger seien Angst und Gier, was das jedoch mit Kleinbürgern zu tun hat, erschliesst sich vermutlich nur denen, die sich für keine solchen halten, denn Angst und Gier – ist das nicht offensichtlich? – gehören zur Grundausstattung von uns allen.
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Niklas Luhmann hat das geschrieben, 1995 war das. Dieser Satz ging mir bei der Lektüre von Tote und Tattoo immer mal wieder durch den Kopf. Anders gesagt: Stefan Gärtner schreibt über die Medienwelt – kritisch und witzig – , die mir mit ihren aufgeregten Debatten (ich kenne niemanden, dem Maxim Biller oder Judith Hermann oder … ein Begriff sind) ziemlich irreal vorkommt. Andererseits lässt sich an dieser medialen Welt aber eben auch sehr gut aufzeigen, auf welch eigenartige Art und Weise wir uns entschieden haben, unsere Zeit auf diesem Planeten zu verbringen.
Zu einem meiner persönlichen Favoriten in diesem Band gehört „Wie fühlt sich das an?“ (der andere heisst „Bül bül bül“), worin sich Autor Gärtner „Ein paar nüchterne Gedanken zu identitätspolitisch bewegter Wissenschaft und der Kritik an ihr“ macht und unter anderem festhält, „rassistisch, so ja auch der Tenor einer ganzen Reihe von Büchern zum Thema, sind alle, die nicht selbst Opfer von Rassismus sind“ – treffender geht kaum!
Fazit: Ein höchst unterhaltsames Plädoyer für nüchternes Denken.
Stefan Gärtner
Tote und Tattoo
Essays, Glossen, Kritik der Dummheit
Edition Tiamat, Berlin 2023