
Innsbruck, Oktober 2019
Hans Durrers Buchbesprechungen
Innsbruck, Oktober 2019
„Back to Blood“ spielt in Miami („Soweit ich weiss, ist Miami die einzige Stadt weltweit – weltweit – deren Bevölkerung zu mehr als fünfzig Prozent aus Neueinwanderern besteht“) und beginnt fulminant: eine junge Latina mit einem Luxuswagen (ein Ferrari 403, Wert $ 275 000) schnappt einem gutsituierten WASP Ehepaar den Parkplatz vor einem In-Lokal, dem Balzac’s („Drei Meter über dem Eingang des Restaurants war eine riesige Kunststoffscheibe angebracht, knapp zwei Meter im Durchmesser und knapp einen halben Meter dick, darin eingelassen eine Büste von Honoré de Balzac, eine ‚Nachempfindung‘ – so bezeichnen Künstler heutzutage ein Plagiat – der berühmten Daguerreotypie von Nadar.“) weg – heftig, wie die da aufeinander losgehen, ja mehr als heftig, das wie im Krieg, nein, das ist Krieg.
„Back to Blood“ ist ein lautes, schrilles Buch, ein Buch voller Töne, Laute, Geräusche, es ist das Buch eines Mannes, der gut hingehört und hingesehen hat.
Der tragische Held der Geschichte ist Nestor Camacho, ein Cop, Kubaner der zweiten Generation (seine Eltern und Grosseltern stammen aus Camagüey, der immerhin drittgrössten Stadt Kubas, doch für die Bewohner Havannas sind die Restkubaner ‚Guajiros‘ – Hinterwäldler), der noch Spanisch versteht, aber es nicht spricht, „eine grosse, glatte Felsformation, ein Gibraltar aus Trapez- und Deltamuskeln, Rücken- und Brustmuskeln, Bizepsen und Trizepsen, Waschbrettbauch, Gesäss- und Oberschenkelmuskeln“, der gleich zu Beginn einen panischen Flüchtling von einem Bootsmast herunterholt. Doch seine von Fernsehsendern ausgestrahlte Heldentat kommt bei seiner Familie, die in einem selbstgebauten aus Kuba geflüchtet war, gar nicht gut an – für sie ist er ein Verräter. Und nicht nur für seine Familie, für die ganz kubanische Gemeinschaft in Hialeah, die wunderbar anschaulich geschildert wird: „Man steckt in einer kleinen Schachtel. Jeder stochert in deinem Leben rum, jeder stochert in allem rum, egal was man auch versucht auf die Beine zu stellen. Alle warten nur darauf, dass sie klatschen und tratschen können …“.
„Back to Blood“ spielt in der Miami Medienszene, der Kunstszene, der Immigrantenszene, doch die verschiedenen Szenen haben so recht eigentlich gar nichts miteinander zu tun.
Über den Journalismus lässt Wolfe den Chefredakteur des ‚Miami Herald‘ für sich denken: „Da ist der Journalismus, und da ist der Profit. Und sei bitte so nett, geh mal kurz zur Seite, wir müssen jetzt nämlich auch mal einen kleinen Blick auf den Profit werfen. Tut uns leid, aber im Moment können wir keinen Woodward und keinen Bernstein brauchen. Ach. Noch was, nimm doch bitte zur Kenntnis, dass die beiden hinter Leuten her waren, die nicht ‚klagen‘ konnten.“
Und auch die Kunstwelt kriegt ihr Fett ab. Wer sich an der Miami Art Basel wähnt, ist natürlich ein Ignorant, denn Eingeweihte wissen schliesslich, dass es sich dabei um Art Basel Miami Beach handelt, wohin die psychiatrische Krankenschwester Magdalena von ihrem Chef und Lover, dem auf Pornosucht spezialisierten Dr. Lewis (dem seine einflussreichen Klienten, den Eintritt in eine Welt ermöglichen, die ihm sonst verschlossen bliebe, weshalb er auch danach trachtet, sie nicht zu verlieren), mitgenommen wird und fragt “Wieso beschäftigte sich die sogenannte avantgardistische Kunst so viel mit Pornografie?“ Erwähnen muss man hier auch das von Wolfe zitierte Bonmot von Tom Stoppard: „Moderne Kunst ist Imagination ohne Handwerk.“
„Back to Blood“ ist auch ein Buch über Multikulti, Wolfe beschreibt, weshalb Multikulti nicht geht, eine Illusion ist. Besonders eindrücklich gelingt ihm das mit der Figur des haitianischen Uni-Dozenten Lantier, der seinen Job der political correctness verdankt und darauf schaut, das in seinem Haus nur Französisch und auf gar keinen Fall Kreolisch („eine Sprache für Wilde“) gesprochen wurde. Reibereien und Animositäten, Wut, Neid, Hass etwa zwischen Kubanern und Schwarzen oder zwischen Kubanern und den Americanos sind an der Tagesordnung.
Als Nestor Camacho auf Ghislaine, die Tochter des Dozenten Lantier, trifft, kann er es gar nicht fassen, dass sie, die doch so helle Haut hat, Haitianierin sein soll, und dazu noch französischer Abstammung ist. Ghislaine sorgt sich um ihren 15jährigen Bruder Philippe, der in eine Gang-Geschichte verwickelt ist, und fragt Nestor um Hilfe und dieser landet in seinem nächsten Problem. Überhaupt will Nestor eigentlich nur ein guter Polizist sein (und ist es auch), doch von Anbeginn weg tritt er in ein politisch-unkorrektes Fettnäpfchen nach dem andern.
Wie schon mit seinen früheren Büchern erweist sich Tom Wolfe auch mit „Back to Blood“ als der Balzac von heute; ein eindrücklicheres zeitgenössisches Sittenporträt habe ich schon lange nicht mehr gelesen.
Tom Wolfe
Back to Blood
Karl Blessing Verlag, München 2013
Oberbüren, September 2019
Bernard Minier, 1960 in Frankreichs Südwesten geboren und in den Ausläufern der Pyrenäen aufgewachsen, ist der Autor des ungemein spannenden „Schwarzer Schmetterling“. Nun liegt mit „Kindertotenlieder“ sein zweiter Roman auf Deutsch vor, mit weitgehendst denselben Personen, die bereits seinen Erstling bevölkerten.
Kommissar Martin Servaz erhält einen Anruf von Marianne, seiner Liebe aus Studienzeiten, über die er nie hinweggekommen ist. Ihr Sohn Hugo steht unter Verdacht die 32jährige Professorin Claire Diemar von der Eliteschule Marsac, dem“Cambridge Südwestfrankreichs“, bestialisch ermordet zu haben. Der Tatort wirkt denn auch gespenstisch, der Mord inszeniert mit der Absicht, Hinweise auf den Täter zu geben. Und Servaz denkt denn auch unverzüglich an den Serienmörder Hirtmann, den Minier-Leser bereits aus „Schwarzer Schmetterling“ kennen und der in der Folge auch in „Kindertotenlieder“ immer wieder in Erscheinung tritt, dessen Rolle sich jedoch als eine ganz andere erweist, als der Leser vermuten würde.
Hugo hat sich regelmässig mit Claire getroffen, um über seinen im Entstehen begriffenen Roman, von dem Professorin sehr angetan war, zu sprechen. Hugo kennt auch Margot, Servaz‘ Tochter, die dieselbe Schule besucht. Servaz selber hat auch die Schule in Marsac besucht, er wollte damals noch Schriftsteller werden.
Ich schildere das so detailliert, um aufzuzeigen, wie Minier Bezüge zwischen den Protagonisten herstellt und nichts dem Zufall überlässt. Ja, so recht eigentlich macht er damit klar, dass alles mit allem nicht nur folgerichtig, sondern zwingend zusammenhängt.
Als Hugo von Servaz befragt wird, erinnert er sich, dass er, als er aufwachte, Musik gehört hatte, klassische Musik, und das sei ungewöhnlich gewesen für Claire. Es waren die Kindertotenlieder von Mahler gewesen, einem Komponisten, dessen Musik sowohl Servaz wie auch Hirtmann sehr schätzte.
„Servaz fragte sich manchmal, weshalb er diese Symphonien so sehr liebte. Wahrscheinlich weil es geschlossenen Welten waren, in denen er aufgehen konnte, weil er darin der gleichen Gewalt, den gleichen Schreien, Schmerzen, Wirren, Auseinandersetzungen und düsteren Vorzeichen begegnete, die auch da draussen auf der Strasse existierten. Mahler zu hören, bedeutete einem Weg zu folgen, der aus der Dunkelheit ans Licht führte und umgekehrt, von grenzenloser Freude in Stürme, in denen der Kahn des menschlichen Daseins ins Wanken gerät und schliesslich kippt.“
„Kindertotenlieder“ ist ein ungemein fesselndes Buch mit ganz unterschiedlichen Handlungssträngen, die von ganz verschiedenen Akteuren, doch hauptsächlich von Servaz‘ eigenständigen Mitarbeitern geprägt sind.
Was ich unter anderem so sehr mag an diesem Autor: er weist mich immer auf höchst Interessantes hin, das meine Weltsicht erweitert, etwa dass die Bergarchitektur vom Anfang des 20. Jahrhunderts von steinernen Mauern geprägt war und eine Zeit war, „in der man für die Ewigkeit baute, an die Zukunft glaubte.“ Oder, dass Madame Bovary, Anna Karenina und Effi Briest von Frauen handeln, die Ehebruch begangen haben, und dass diese drei Meisterwerke von Männern geschrieben wurden. „Was beweist, dass der Satz von Hemingway, wonach man über das schreiben muss, was man kennt, ausgemachter Blödsinn ist.“
Bernard Minier zu lesen, bedeutet für mich, in einen Spannungssog zu geraten, die Welt um mich herum zu vergessen, in viel Französisches (von Landschafts- zu Wetterschilderungen zu intellektuellen Dialogen) einzutauchen und immer mal wieder auf sehr Wahres zu treffen: „Sie brauchte Liebe. Der einzig echte Drogenersatz …“.
Ein exzellenter Thriller, der auch eine bewegende Liebesgeschichte ist.
Bernard Minier
Kindertotenlied
Droemer, München 2014
Oamishirasato. Japan, April 2019
Thomas Pynchon gilt bei Kennern als bedeutender Schriftsteller. Dazu trägt auch bei, dass es kaum öffentliche Spuren seiner Existenz gibt. Ich selber kenne nur Buchtitel wie „Mason & Dixon“ und „V“. „Bleeding Edge“ ist mein erstes Buch von ihm. Und es beginnt so:
Maxine Tarnow, jüdisch, geschieden, zwei schulpflichtige Kinder, ist Inhaberin einer kleinen Betrugsermittlungsagentur auf der Upper West Side. In den Nachwehen der Trennung von ihrem Mann begibt sie sich auf eine Kreuzfahrt und erfährt erst an ihrem ersten Abend auf See, dass sie sich auf einer jährlichen Veranstaltung von Amerikanern mit Borderline-Persönlichkeitsstörung befindet. Dabei lernt sie den Dokumentarfilmer Reg Despard kennen, der sich verfolgt fühlt.
Eine recht aberwitzige Internet/Geldtransfer-Geschichte/Verschwörung nimmt ihren Lauf, die jedoch, hält man sich den realen täglichen Aberwitz vor Augen, eigentlich gar nicht so abstrus, sondern mindestens ebenso realistisch ist wie das, was man uns gemeinhin als Normalität zu verkaufen versucht.
Schon recht bald hatte ich den Faden verloren, doch das störte mich nicht, denn „Bleeding Edge“ ist voll von überaus faszinierenden Szenen, die für mich die Lektüre nicht nur lohnen, sondern mich für Pynchons Schreiben regelrecht begeistern. Selten, dass ich bei einer Geschichte, der ich nicht wirklich folgen kann, nicht entnervt aufgebe, sondern immer wieder aufjuble, so treffend ist dieses New York, ja das Leben überhaupt, und der Umgang der Menschen miteinander geschildert.
Diese Szene in der U-Bahn etwa:
„Heute predigte ein verrückter weisser Missionar am einen Ende des Wagens gegen eine schwarze A-capella-Gruppe am anderen Ende an. Ideale Bedingungen.“
Oder diese hier:
„’Ahh! Wolle Sie was-e zum Es-sen? Wie wärs-e mit-e diese Paprika-Ei-Sandewitsch?‘
‚Danke, aber ich habe gerade …‘
‚Paprika-Ei-Sandewitsch von meine Mama.‘
‚Tja, Mr. Slagiatt, kommt drauf an. Meinen Sie nach dem Rezept Ihrer Mutter? Oder ist es ihr, wie soll ich sagen, persönliches Paprika-Ei-Sandwich, das sie auf die Anrichte da gelegt hat anstatt in den Kühlschrank, wo es hingehört?‘ Durch Shawn ist Maxine mit der exotischen asiatischen Technik vertraut, die unter dem Namen „Falsches Essen“ bekannt ist, und so wird sie, wenn es hart auf hart geht, nur so tun, als würde sie das Paprika-Ei-Sandwich essen, das, trotz des authentischen Anscheins, mit allem Möglichen kontaminiert sein könnte.‘
‚Ach, schon-e gut.‘ Er nimmt das Ding, das jetzt tatsächlich unnatürlich weich und labbrig zu sein scheint – ‚Ist aus Plastik‘ – , und wirft es in eine Schreibtischschublade.“
Und:
“’Meinen Sie, Israel spioniert uns nicht aus? Erinnern Sie sich an den Fall Pollard damals – 1985? Selbst linke Zeitungen wie die New York Times haben darüber berichtet, Ms. Tarnow.‘
Wie rechts, fragt sich Maxine, muss einer sein, um die New York Times für eine linke Zeitung zu halten?“
Und:
„‚Wenn es um betrügerische Machenschaften geht, würden wir gern davon erfahren. Irgendwann.‘ ‚Ist das ein Auftrag? Für Geld? Oder haben Sie vor, sich auf Ihren Charme zu verlassen?'“
„Bleeding Edge“ ist nicht nur unterhaltsam und lehrreich, sondern vor allem: prall, intensiv, voller Leben. Eine Entdeckung!
Thomas Pynchon
Bleeding Edge
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014
Mutten, Graubünden, Schweiz, September 2019
Meine ersten beiden Hunter S. Thompson-Bücher waren „Fear and Loathing in Las Vegas“ und „Fear and Loathing on the Campaign Trail“, ich fühlte mich damals sehr speziell, weil ich diese beiden Bücher kannte, doch an den Inhalt erinnere ich mich heute nur noch vage. Jetzt jedoch, als ich „Die Rolling Stone Jahre“ lese, geht mir wieder auf, was das Schreiben des Hunter S. Thompson (HST) für mich damals so aussergewöhnlich machte (und immer noch macht), was es abhebt vom Schreiben anderer Journalisten.
Aufzeigen will ich das an „Richard Nixons Tod“.
Richard Milhous Nixon starb am 22. April 1994 an den Folgen eines Hirnschlags. HST, der über ein Vierteljahrhundert von Nixon („die lebende, atmende Verkörperung der dunklen Seite des amerikanischen Traums“) geradezu besessen war, befand sich zu diesem Zeitpunkt in New Orleans, um sein neues Buch vorzustellen. (Übrigens: Dass der ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidat George McGovern, ein Freund von HST, dem Begräbnis Nixons beiwohnte, hatte HST, so McGovern später, ihm nie verziehen.).
„Richard Nixons Tod“ beginnt so:
„Richard Nixon ist jetzt weg, und ich bin umso ärmer. Er verkörperte für mich ‚die Quintessenz‘ – ein Monster, ein Grendel (keine Ahnung was das ist, bei Wikipedia wurde ich fündig: „Grendel ist eine Gestalt der frühen angelsächsischen Heldenepik. Im Stabreimepos „Beowulf“ ist er der sagenhafte Gegenspieler des Protagonisten“) der Politik und ein sehr gefährlicher Feind. Er konnte dir die Hand schütteln und gleichzeitig einen Dolch in deinen Rücken rammen. Er belog seine Freunde und missbrauchte das Vertrauen seiner Familie.“
Es ist diese radikale Subjektivität, die ich an HST schätze. Radikale Subjektivität erfordert Mut. Und lädt den Leser dazu ein, sich auf Gefühle und Empfindungen einzulassen, die man vielleicht lieber nicht wahrhaben möchte. Das bedeutet nicht, dass ich HSTs Gefühle teile, doch ich schätze es ungemein, andere als die in solchen Situationen üblichen Worte zu vernehmen.
Noch ein Beispiel:
„Dass zu diesem Thema in unseren Geschichtsbüchern nur keine Fehler auftauchen: Richard Nixon war ein böser Mensch – böse auf jede Weise, und das können letztlich nur diejenigen wirklich verstehen, die an die physische Realität des Teufels glauben. Er hatte nicht den geringsten Sinn für Ethik und Moral und besass auch nicht einen Funken Anstand. Niemand traute ihm – ausser vielleicht den stalinistischen Chinesen, und honorige Historiker werden ihn vornehmlich als eine Ratte im Gedächtnis behalten, die immer wieder aufs Schiff zurückkrauchte.“
HSTs Sicht der Politik unterscheidet sich grundlegend von derjenigen anderer Journalisten, die über das politische Geschehen berichten. Weil er kein Blatt vor den Mund nimmt, weil er unverhohlen Stellung bezieht, weil er mit subjektiven Werturteilen um sich schmeisst, die häufig der Wahrheit näher kommen, als es gefälliger, auf Mehrheitsmeinungen achtender Massenjournalismus hervorzubringen imstande ist. So charakterisiert er George W. Bush als „ein geistig minderbemittelter Junge aus einer Studentenverbindung, der unter dem Druck von sechzig Millionen Wählern zusammenbricht“ und spricht von der Bush-Cheney-Bande als „der Verbrecherbande von der Halliburton-Öl-Organisation“.
Die in diesem Band versammelten Texte stammen aus den Jahren 1970 bis 2004. Sie handeln vom Sport, von der Politik, vom … na ja, so recht eigentlich handeln sie alle von Hunter S. Thompson und seiner Sicht der Dinge. Dabei kommen die Fakten nicht zu kurz. Was HSTs Journalismus vom gängigen Mainstream Journalismus unterscheidet, ist, dass er den Leser an seinen Erkenntnisprozessen teilnehmen lässt. Zu meinen Lieblingstexten gehört „Befremdliche Töne in Aztlan“ aus dem Jahre 1971, wo auch sein nachmaliger Gefährte, der Chicano-Anwalt Oscar Zeta Acosta eingeführt wird, „… in einer Bar namens ‚The Daily Duck‘ in Aspen, wo er auf mich zugeschwankt kam und mich vollquatschen wollte mit so Sachen wie: ‚… man müsste das ganze System auseinanderfetzen wie einen mistigen Heuhaufen‘ oder zumindest so ähnlich … und ich weiss noch, dass ich dachte: ‚Na, schon wieder so einer von den ausgeflippten und von Schuldgefühlen geplagten Aussteigeranwälten aus San Francisco – so ein Saftsack, der einen Taco zuviel gemampft hat und sich gleich vorkommt wie der einzig echte Emiliano Zapata.’“
Journalistische Texte, die teilweise vor über vierzig Jahren geschrieben wurden, zwischen zwei Buchdeckeln? Kann das noch einen anderen als einen nur historischen Wert haben? Im Falle von „Die Rolling Stone Jahre“ soll/muss man mit einem klaren Ja antworten, weil nämlich HST eine Haltung verkörpert, die heutigen Journalisten leider abgeht: Respektlosigkeit gegenüber der weitverbreiteten Amtsanmassung. Dass „Die Rolling Stone Jahre“ darüber hinaus auch von historischem Interesse sind, versteht sich von selbst. So lernt man etwa, dass in den siebziger Jahren bei Pressekonferenzen Jeans zu tragen nicht nur als Abweichung vom Standard journalistischer Kleidung, sondern als „grob ungehörig oder möglicherweise gar gefährlich angesehen wird. In Washington kleiden sich Journalisten wie Bankbeamte – und diejenigen, die es nicht tun, kriegen Probleme.“
Mainstream Journalismus ist ausgewogen, alle sollen zu Worte kommen, der Journalist soll sich zurückhalten. HSTs Gonzo-Journalismus ist was ganz anderes: hier erfährt man etwas über die Befindlichkeit und Werthaltung des Journalisten, und deswegen versteht man auch, wieso er schreibt wie er schreibt. Zudem wird einem vorgeführt, dass die Vorstellung, ein Journalist könnte ein neutraler Beobachter, Journalismus könnte objektiv sein, nichts als ein müder Witz ist.
Dem Leser von „Die Rolling Stone Jahre“ wird drastisch und eindringlich vor Augen geführt, was Journalismus auch sein kann: Auflehnung gegen Konventionen, sämtliche Konventionen. Zum Beispiel so: „Wer bin ich denn, dass ich einem Freund raten könnte, seinen Namen nicht in Oliver High zu ändern, sich nicht von seiner Familie zu trennen und sich nicht einem Satanskult in Seattle anzuschliessen? Oder mit einem anderen streiten könnte, der eine einschüssige Remington Fireball kaufen will, um loszurennen und aus sicherem Abstand die Cops abzuknallen? Jedem das Seine, sag ich. Man sollte sich hüten, ohne Grund einem Freund im Gehirn staubzusaugen. Und wenn die privaten Trips der Freunde ab und zu mal ausser Kontrolle geraten – nun, man tut, was man tun muss.“
Hunter S. Thompson
Die Rolling Stone Jahre
Heyne, München 2012
Rapperswil, September 2019
Es gibt Bücher, da wird man sofort hinein gesogen und gleichsam gefangengenommen von einer Atmosphäre, die etwas Magisches an sich hat, und das liegt nicht an der Geschichte, die erzählt wird, es liegt an den Bildern, die sich im Kopf formen, wegen Szenen, Sätzen, Dialogen, die einen die Geschichte fast vergessen machen oder jedenfalls in den Hintergrund drücken. Driver 2 gehört zu diesen Büchern und James Sallis schafft es, einen Film in meinem Kopf ablaufen zu lassen, der mich glauben lässt, ich selbst sei in der Wüste in Arizona.
Was mir Sallis vermittelt, ist ein Lebensgefühl. Verloren, frei und gegenwärtig. Und das klingt dann so:
„Irgendwo dazwischen, vielleicht auf halbem Weg den Block hinunter oder während er eine Strasse überquerte, irgendwann zwischen den ersten Sonnenstrahlen und der einsetzenden Dunkelheit wurde ihm klar, dass er nicht in sein altes Leben zurückkehren würde.“
Oder so:
„’Sieht so aus, als ob die Wüste und eine lange Mondscheinfahrt auf dich warten.‘
‚Ganz klar oben auf der Liste.‘
‚Wenn es soweit ist, geniesse jede Minute.‘
‚Mach ich.‘
‚Sind die besten Stunden im Leben, nur du und die Strasse, während du den ganzen Scheiss hinter dir lässt.‘
‚Klar.‘
Der Mann nickte kurz und ging davon.
Waren es wirklich die besten Stunden? In vielerlei Hinsicht absolut. Da draussen zu sein, ungebunden und frei, fast wie im Flug, fort von allem, was sich solche Mühe gab, einen festzuhalten. Wenn man dieses Gefühl erst einmal kennengelernt hatte, kam man nie wieder darüber hinweg und nichts kam diesem Gefühl auch nur annähernd gleich.“
Oder so:
„’Meinungen sind wie Arschlöcher‘, pflegte Shannon immer zu sagen, ‚jeder hat eine. Aber Überzeugungen, das ist eine ganz andere Nummer – Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.‘ Letzteres war von Nietzsche, obwohl das Driver damals nicht wusste.“
Daseinssteigerung sei der Sinn von Literatur, meinte Martin Walser kürzlich in einem Interview. Und genau das ist auch, was dieser schmale Band von James Sallis leistet.
James Sallis Driver 2 Liebeskind, München 2012 |