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Erste Schritte

Max Dax: Dissonanz

Warum ich dieses Buch ganz anders als gewohnt angehe, weiss ich nicht wirklich. Ich lese die ersten Seiten, blättere dann vor und wieder zurück, bleibe hängen, fahre fort, beginne wieder von vorn – es ist ein ständiges Hin und Her. Und es stimmt für mich so.

Der Umschlag gefällt mir, Klappentext hat es keinen. Der Name des Autors ist mir kein Begriff (ich google ihn nicht), auch hatte ich irrtümlicherweise angenommen, der Untertitel beziehe sich auf das Corona-Jahr, es handelt sich jedoch um die Zeit von Juni 2009 bis Juni 2010.

Wie bin ich überhaupt zu diesem Buch gekommen? Durch den Newsletter des Verlags, den ich ganz offenbar nicht wirklich gelesen hatte … Umso beglückender ist natürlich, dass das Buch ganz nach meinem Geschmack ist, was natürlich auch damit zu tun hat, dass ich bei meinem eigenen Schreiben ähnlich verfahre.

Ich nehme Dissonanz als Collage wahr. Einzelne Sätze wechseln ab mit längeren Ausführungen, Alltagsbeobachtungen mit Projektüberlegungen, die Preisangabe eines Sandwich mit einem Buchtitel. Der Autor, dessen überaus vielfältige Interessen zumeist im Kulturbereich angesiedelt sind, schreibt halt so auf, was ihn umtreibt.

Am Mittwoch, dem 15. Juli 2009, notiert er unter anderem. „Ein Geschenk des Verlegers Alexander Wewerka: Michael Haneke im Gespräch mit Thomas Assheuer. Haneke: ‚Deswegen hat es sich in Philosophie und Literatur schon seit längeren herumgesprochen, dass die fragmentarische Erzählweise die unseren Fähigkeiten einzig angemessene sein kann.’“ Und genau diese praktiziert auch Max Dax.

Zu den Zitaten, die mich ganz besonders angesprochen haben (wohl, weil sie mein eigenes Lebensgefühl treffen), gehört: „Diedrich Diederichsen: ‚Früher hatte die Popmusik die Kraft, einem zu vermitteln:’Ja. Genau so ist es, so lebt man heute.‘ Zeitgenössische Popmusik kann dieses Gefühl nur noch selten herstellen.’“. Zu den Zitaten, die ich absoluten Schwachsinn finde, gehört, was Klaus Theweleit über Gilles Deleuze schreibt: „Trinken: Die Alkoholiker, was für Strategen: Der Alkohol und das Schreiben: die grossen Amerikaner, Lowry, Faulkner, Thomas Wolfe, Algren. Schriftsteller und Alkohol gehören zusammen. Warum? Weil sie etwas spüren im Leben, das grösser ist als sie, und das sie ohne Alkohol nicht ertragen.“ Am Rande: Als der Songwriter Warren Zevon einmal im Krankenhaus lag, wurde er auch von seinem Lieblingsautor Ross Macdonald besucht, der ihm klarmachte, dass er trotz seines Saufens tolle Songs schrieb.

In der Berliner Dachgeschosswohnung einer Zürcher Galeristin liegt Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht neben dem Bett. „Der erste der drei Teile dieses monströs überdicken Schinkens hatte Schneiders Blick auf die Welt einst verändert. Man kann also von einer Zeit vor und einer Zeit nach der Lektüre von Mein Jahr in der Niemandsbucht sprechen. Die Zeit davor steht für eine Gleichgültigkeit gegenüber der am ICE vorbeiziehenden Natur. Lange Wegstrecken hatte Schneider als Geduldprobe empfunden, als zu überbrückende Distanzen. Die Zeit danach steht für ein Interesse an der Welt da draussen als ständig sich veränderndes Bild, dessen ruhende Horizontlinie stets einen Fixpunkt für das Auge gewährt, während der Hochgeschwindigkeitszug durch Hügel und Ebenen, über Flüsse und Tunnel rast.“ Auch meine Weltwahrnehmung hat Handke beeinflusst.

Dissonanz ist ein sehr treffender Titel für diese Aufzeichnungen, denn im herkömmlichen Sinne geordnet ist in diesem Buch einzig die Chronologie. Ansonsten herrscht die vermeintliche Willkür, die so recht eigentlich der Normalzustand ist. Ordnung und Vereinheitlichung strebt der Mensch um seiner Orientierung Willen an, dass das Leben beziehungsweise was in einem Kopf vorgeht faszinierender ist, wenn man es einfach beschreibt und kommentiert, zeigt dieses Buch.

Es ist das Nebeneinander von Allem und Jedem, das mich für Dissonanz einnimmt, denn so unaufgeregt und gleichzeitig geschieht das Leben. Jedenfalls empfinde ich meins so. Da steht die Beschreibung des Abendessens („Wiener Schnitzel und Kaiserschmarrn und Vogelbeere“) neben der Simulation des Urknalls in der Nähe von Genf („Es war dabei gottseidank nicht, wie von manchen befürchtet, ein Schwarzes Loch entstanden.“).

Fazit: Höchst anregende Alltagsphilosophie.

Max Dax
Dissonanz
Ein austauschbares Jahr
Merve Verlag, Leipzig 2021

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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