
Am Walensee, 11. August 2022
Hans Durrers Buchbesprechungen
Am Walensee, 11. August 2022
Flugasche hat mich für Monika Maron eingenommen. Ich weiss nur noch undeutlich, wovon die Geschichte gehandelt hat, doch ich erinnere mich an das ernste und schöne Gesicht der Autorin auf dem Umschlag, und daran, dass auch in einer komplexen Welt mit intelligent argumentierenden und ganz unterschiedliche Auffassungen vertretenden Akteuren, eine klare moralische Haltung möglich war. Gut möglich, dass ich mich täusche, doch wer kommt schon gegen seine Erinnerungen an?
Auch der Umschlag von Essays und Briefe zeigt eine attraktive Frau (und ja klar, natürlich beeinflusst mich das), Zigarette zwischen den Fingern, die auch zur Schau stellt, dass man als Raucherin ein stattliches Alter, sie ist 1941 geboren, erreichen kann. Warum sie mir sympathisch ist? Das hat vermutlich (ich kann nur raten, wer kennt sich schon?) mit ihrer Ausstrahlung, mit ihrer eigenwilligen Haltung zu tun.
Die Texte stammen teils von vor dem Mauerfall, teils von danach. Bei den Briefen handelt es sich um einen im ZeitMagazin veröffentlichten Briefwechsel mit Joseph von Westphalen. Für jemanden wie mich, der sich über den Osten Deutschlands noch nie gross Gedanken gemacht habe, bietet dieses Buch nützliche und notwendige Aufklärung, die sich auch der Tatsache verdankt, dass Monika Maron nicht mit Links/Rechts-Kategorien zu fassen ist.
Der erste Essay, der mich in seinen Bann zieht, ist „Wo war Leonora Carrington?“, der mich veranlasst, die kurzzeitige Geliebte von Max Ernst in Desmond Morris‘ Werk über die Surrealisten nachzuschlagen. „Der Schriftsteller als Wanderzirkus“ handelt von Lesereisen, die Monika Maron als Talkshow in der Buchhandlung beschreibt, bei der es „um voyeuristische Lüsternheit: die Vorstellung des Schriftstellers als Mensch und Raucher, als Mensch und Konfektionsgrösse“ geht. Über den am 22. Mai 1939 in New York durch die eigene Hand aus dem Leben geschiedenen Ernst Toller, schreibt sie: „Tollers politisches Ideal, der gewandelte gütige Mensch als Voraussetzung einer Revolution, war unerfüllbar. Er wusste das und hielt daran fest.“
Besonders aufschlussreich fand ich „Fettaugen auf der Brühe“, der davon handelt, wie die einstigen Karrieristen aus dem Osten jetzt auch im Westen medial florieren, und worin sich auch der schöne Satz findet: „Wie blöd sind wir eigentlich, dass wir einen Markt hergeben für Leute, von denen man sich nur eins wünschen kann: dass sie endlich, endlich den Mund halten.“
Die Themenpalette geht von Heinrich Heine über Peter Zadek zu den Girlies, von Christos Reichstagsverhüllung über die zwei Berichte an die Stasi aus dem Jahre 1976 zur Frage, warum sie schreibe. „Ich weiss nicht, ob andere Schriftsteller wirklich wissen, warum sie schreiben. Ich jedenfalls weiss es nicht (…) Vielleicht bin ich nur Schriftstellerin geworden, weil es mir sehr früh als eine trostreiche Beschäftigung erschien, Wörter auf einen Zettel zu schreiben.“
Überaus aufschlussreich fand ich „Rollenwechsel. Über einen Text und seine Kritiker“, worin sich Monika Maron mit ihren Kritikern auseinandersetzt. Genauer: Mit der Reaktion des Feuilletons auf Pawels Briefe. Dabei charakterisiert sie Rezensenten als professionelle Leser, „die, weil sie über geprüfte Kriterien zur Beurteilung von Literatur verfügen oder zu verfügen glauben, stellvertretend für eine potenzielle Leserschaft lesen und das Ergebnis ihrer Prüfung in hundertfacher Auflage verbreiten.“ Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: So ein Rezensent bin ich nicht und möchte ich nicht sein. Ich gebe hier ausschliesslich meine willkürlich ausgewählten Eindrücke kund.Weder frage ich mich, was der Autor (oder die Autorin) mir sagen will, noch rätsle ich über den Stellenwert des Werkes in der Zeit- bzw. der Literaturgeschichte; manche Sätze oder Bilder bleiben mir, andere nicht – mir genügt, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Dass und wie sich Monika Maron gegen ihre Kritiker wehrt, gefällt mir. Ausführlich befasst sie sich mit der Kritikerin Corina Caduff, die offenbar (so lese ich sie) genau das tut, was Fotokritiker fast immer mit Fotos tun (nach zwanzig Jahren des Schreibens über Fotografie, ist mir das zur Gewissheit geworden), und im Talmud so geschildert wird: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen die Dinge wie wir sind. Meines Erachtens gilt das nicht nur für Fotografien, es gilt auch für Bücher, ja, es gilt so recht eigentlich für alles.
Wie kommt es, dass wir sind, wer wir sind? Die Hirnforschung lehrt uns, dass unser Spielraum weit weniger gross ist, als wir gemeinhin annehmen, und so „kämpfen wir verzweifelt um das Recht auf Verantwortung für unser Tun und Lassen und für unsere Verdienste und somit auch für unsere Schuld, um unsere selbst gestaltete Biografie.“ Der Überlebenstrieb bzw. das Ego hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind – im Guten wie im Schlechten. Was wir daraus machen, darauf kommt es an, kriegte Monika Maron, damals Mitte dreissig, von einer Freundin gesagt.
Natürlich habe ich meine Lieblinge unter diesen Essays. Die „Laudatio auf Marie-Luise Scherer“ gehört dazu. Einmal, weil Scherers Texte bei mir einen tiefen Eindruck hinterlassen und mich überzeugt haben, dass Reportage Kunst sein kann (man lese: Der Akkordeonspieler), dann aber auch wegen: „Marie-Luise Scherer fragt nicht warum, sie fragt nach dem Was. Was ist passiert, und wem ist es passiert.“ Man kann von ihr das Hinschauen lernen. „Mit ihrem seltenen Blick, der nie auf das Erwünschte, sondern immer auf das Vorzufindende zielt, der nie nach Beweisen für das schon Gewusste sucht, sondern nach dem, was noch nicht gewusst wird und gewusst werden kann …“. Es lohnt sich, bei diesen luziden Beobachtungen zu verweilen.
Auch Monika Maron hat – wenig überraschend – diesen „seltenen Blick“, der sich an dem orientiert, was ist. Besonders schön, auch weil so absurd-witzig, ist „Was ist eigentlich los?“, worin sie unter anderem daran erinnert, dass „die Grundbegriffe der Demokratie keine Glaubensartikel, keine Gebote (sind), sondern Gesetz, zu dem man sich nicht bekennen, aber das man befolgen muss, wenn man hier lebt.“
Gestaunt habe ich, dass offenbar in keiner Partei „die Bürgerrechtler so unsichtbar geworden sind wie bei den Grünen.“ Gewundert habe ich mich allerdings, dass Frau Maron sich darüber wunderte, „dass Rechtsanwälte, von denen es man nicht erwartet hätte“ bei den gestürzten ostdeutschen Machthabern vorstellig wurden, um sie vor der westdeutschen Siegerjustiz zu retten. War die Rechtsanwendung (insbesondere mit prominenten Klienten), jemals etwas anderes als ein Geschäftsmodell, bei dem man seine Eitelkeit ausleben konnte?
Es gibt ganz Vieles, das ich sehr ähnlich sehe wie Monika Maron, der der Islam Angst macht („Die Wahrheit ist, dass ich vor dem Islam wirklich Angst habe.“), und es gibt Anderes, das ich ganz, ganz anders sehe (sie wählt die FDP und würde Sebastian Kurz wählen, wenn dies möglich wäre – das war 2017, als sie dies schrieb). Doch vor allem: Diese Essays und Briefe sind Ausdruck eigenständigen Denkens, mit dem sich auseinanderzusetzen hilfreich ist – weil es anregt, auch selber so genau hinzuschauen wie es Monika Maron tut.
Monika Maron
Essays und Briefe
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022
Malans, am 19. März 2923
„Ein leuchtender Sommer in Cape Cod: Die Geschichte einer unerwarteten Freundschaft zwischen einem Waisenjungen und dem Künstlerpaar Josephine und Edward Hopper“, informiert der Verlag. Ich erhoffe mir hauptsächlich Aufschluss über die Hoppers – und werde nicht enttäuscht.
Die Aitchs (wie die Hoppers aus mir unerfindlichen Gründen in diesem Roman heissen) wohnen am Strand, an dem auch immer wieder Besucher auftauchen, von denen Mrs Aitch, sie ist selber auch Künstlerin, glaubt, sie würden ihren berühmten Mann stören, weshalb sie sie verscheucht. Als ihr Mann davon erfährt, verbietet er sich ihr Vorgehen; er besteht darauf, für sich selber zu entscheiden. Dass das Verhältnis der beiden mehr als nur problematisch ist, ist offensichtlich. Andererseits: Das ständige Hin und Her, das Streiten, die Schwierigkeiten beflügeln auch.
Ob er stolz auf seine Bilder sei?, will sie von ihm wissen. Nicht wirklich, antwortet er, ihm gehe es um den Prozess, weniger um das Resultat. Sie will das nicht gelten lassen. „Wenn sie so reagiert, weiss er wieder, dass er sie liebt.“ Kurz darauf beklagt sie sich, er behandle sie wie Luft. „Wenn sie so redet, weiss er nicht mehr, wie oder warum er sie je hat lieben können.“
Christine Dwyer Hickey hat mit diesem Roman auch das Porträt einer Ehe (und vermutlich ganz vieler Ehen) verfasst, in der zumeist ganz unterschiedliche Welten aufeinandertreffen, die so recht eigentlich am besten so nebeneinander her leben wie im Falle der Aitchs. „Seine Frau macht gleichzeitig Augen und Mund auf. Er hofft, dass heute zu den Ausnahmen gehört. Manchmal fängt sie aber auch schon zu reden an, bevor sie die Augen überhaupt aufmacht.“ Er selber bedarf der morgendlichen Stille. „Wenn er am Morgen ungestört lesen kann, umgibt ihn eine grosse Ruhe, eine Zeitlosigkeit.“
Ihr Mann befindet sich in einer Schaffenskrise. „Es wird anscheinend mit jedem Jahr etwas schwerer, etwas weniger der Mühe wert. Sisyphusarbeit, und der Felsblock mit jedem Mal grösser.“ Wie der Autorin die Schilderung seiner mit dem Alter zunehmenden Antriebslosigkeit gelingt, ist höchst beeindruckend, Was ihm einst alles bedeutete, berührt ihn nun nicht mehr. „Er gleicht dem Weiberhelden, den kein Rock mehr reizt.“
Schmales Land spielt im Jahr 1950, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als der deutsche Waisenjunge Michael in Amerika ankommt, wo er das malende Künstlerpaar Aitch kennenlernt, das der Zehnjährige fortan fast jeden Tag besuchen kommt. Der Mann hat so seine liebe Mühe damit, dass sich der Junge mit seiner Frau wohler fühlt als mit ihm. „Der Junge findet etwas an mir, und du, du bist für ihn bloss ein weiterer nicht vertrauenswürdiger Erwachsener. Eifersucht, Eifersucht, Eifersucht.“
Schmales Land ist auch ein Buch übers Malen, über den kreativen Schaffensprozess, über die Suche nach den Bildern im Kopf. Zu den für mich stärksten Szenen gehört ein Traum von Mrs Aitch, in dem ihr ein Bild erscheint, das sie „von der keimenden Idee bis zur endgültigen Komposition“ hervorgebracht hat.
Was mir Schmales Land wertvoll macht sind vor allem die kontemplativen Momente. „Zum Lesen macht er stets schon mal den oberen Teil der Halbtür auf, damit die Morgenluft hereinkam. Er lehnt sich in seinem Sessel zurück, legt die Füsse auf die Chaiselongue und stellt die Kaffeekanne in Reichweite. Dann schlägt er sein Buch auf. Und wird zum Beobachter des Treibens anderer. Aus ebendem Grund geht er so gern ins Kino.“ Eine bessere Einladung zum Kopfkino, das dieser Roman bietet, ist eigentlich nicht vorstellbar.
Christine Dwyer Hickey
Schmales Land
Unionsverlag, Zürich 2023
Gonzen, von Sargans aus gesehen, am 18. März 2023
In England lügt man nicht, in England betreibt man einen ökonomischen Umgang mit der Wahrheit. Juristen wissen, dass man sowohl aktiv als auch passiv lügen kann. Und die Bibel verheisst, die Wahrheit werde den Menschen frei machen. Ja, was denn nun? Wer auf einfache und klare Antworten hofft, kommt bei Nichts als die Wahrheit nicht auf seine Kosten – da wird stattdessen vorgeführt, wie gewitztes Denken geht.
Nichts als die Wahrheit ist ein ausgesprochen dünner Band, den als Buch zu bezeichnen sich nicht wirklich aufdrängt, auch der sehr grossen Schrift und der vielen Leerräume wegen. Kann man daraus schliessen, über die Wahrheit gebe es nur wenig zu sagen?
Autor Melchior Werdenberg, geboren 1954, „ist Jurist und passionierter Erzähler von allerlei Lügengeschichten am Rande der Realität“, lässt der Verlag wissen und so hätte man sich so recht eigentlich Ausführlicheres gewünscht als ein paar wenige Sprüche, deren Sinn sich mir nicht immer erschlossen hat – dafür waren sie spitzfindig und unterhaltsam.
Andererseits: Gute Juristen verstehen sich darauf, kurz und knapp Wesentliches herauszuschälen, sei es in der Form von Behauptungen, sei es als Fragen.Warum sie der Autor als Sinnsprüche (laut Oxford Languages, „ein Spruch oder Satz, der eine allgemein gültige Wahrheit, eine tiefere Erkenntnis enthält“) bezeichnet, ist mir tendenziell verborgen geblieben. Zum Beispiel im Falle von „Wahrheit ist Ansichtssache“ (für einen Juristen vielleicht, als Geschäftsgrundlage) oder „Wahrheit ist kein Argument“ (wer behauptet das und weshalb sollte sie es auch sein?).
Zugegeben, man sollte nicht, wie ich es getan habe, aufs Geratewohl hineinlesen, sondern den Band so angehen, wie er aufgebaut ist, also mit dem Prolog beginnen, in dem geklärt wird, wie mit den hier vorgelegten Sinnsprüchen verfahren werden soll: „Sie sind meist suggestiv und wollen nicht hinterfragt werden.“ Echt jetzt?
Nun gut, als Leser hat man den Vorteil, dass einem die Vorgaben des Autors wurscht sein können. Für mich sind Lüge und Wahrheit existenzielle Kategorien, für den Juristen Melchior Wechselberg scheinen sie hingegen wesentlich Diskussions- bzw. Unterhaltungsstoff zu sein. „Der richtige Umgang mit Wahrheit und Lüge besteht wohl darin, zu erkennen, dass die Wahrheit per se kein Argument ist, und für die Lüge, die sich als Wahrheit ausgibt, gilt das natürlich ebenso.“ Das klingt, jedenfalls in meinen Ohren, etwas arg nach alles ist relativ. Nur eben: Ist es nicht. So gibt es die Wahrheit der Geburt und des Todes. Und auch die Realität ist wahr; sie existiert, ob man an sie glaubt oder nicht. Doch wer Solches behauptet, hat noch nie mit Juristen zu tun gehabt, von denen Jurist Werdenberg zu berichten weiss: „Recht wird auch dann gesprochen, wenn sich die Wahrheit nicht finden lässt.“
Für mich liegt der Wert dieses Werkes darin, dass es mir Anstösse gibt, und zwar ganz viele. Dass sie mich meist zum Widerspruch reizen, was seinen Reiz hat, will ich für einmal vernachlässigen, stattdessen lasse ich die Rubrik „Und ein Blick auf die Justiz“ auf mich wirken, die mit dem schönen bon mot beginnt: „Im Gerichtssaal begegnen sich zwei Wahrheiten und werden ersetzt durch eine Fiktion.“ Genau so schön (und wahr) finde ich: „Jeder schwört auf Verlangen ’nichts als die Wahrheit‘ zu sagen und sagt doch, was er will.“ Der allerschönste ist jedoch dieser hier: „Quod non est in actis non est in mundo“ (‚Was nicht in den Akten ist, ist nicht auf der Welt.‘). Ob das ein Sinnspruch ist, sei dahingestellt, doch es beschreibt die erfundene Juristenwelt trefflich, zu der auch gehört, was ein Mann aus den USA, der bei der Zusammenstellung der Geschworenen nicht berücksichtigt wurde, einst geäussert hat: „Everything is ambiguous in life except in court.“ Und auch dies ist wahr!
Fazit: Vielfältig anregend, zum Widerspruch reizend.
Melchior Werdenberg
Nichts als die Wahrheit
Aber an der Lüge kommt keiner vorbei / Sinnsprüche
Elster & Salis, Zürich 2022
Sargans, am 18. März 2023
Vor über 30 Jahren habe ich einmal eine Journalismus-Buchreihe mit illustren Autoren wie Herbert Riehl-Heyse, Hermann Schreiber und Jürgen Leinemann herausgegeben. Deren Texte, so glaubte ich damals, seien es wert, „über den Tag hinaus“ aufbewahrt zu werden. Heutzutage bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher (obwohl ich nach wie vor stolz bin, dass es diese Bücher gibt), auch wenn viele von ihnen ausgesprochen gut gealtert sind, was auch daran liegt, dass sie häufig Grundsätzliches thematisierten, und die Autoren exzellente Schreiber waren. Bei der vorliegenden Texte-Sammlung weiss ich nicht so recht, wie ich sie ’sub specie aeternitatis‘ einschätzen soll, doch hat sie mich bestens unterhalten und einiges gelehrt – und das kann ich nur von wenigen Büchern sagen. Und überhaupt: Warum sollen Bücher eigentlich Ewigkeitswert haben?
Der etwas bemüht originelle Titel Tote und Tattoo mag ein Hinweis darauf sein, die vorliegenden Texte des 1973 geborenen Autors, unter anderem Kolumnist für ‚Titanic‘ und die Zürcher ‚WOZ‘ (eine wahrhaft gelungene Kombination!), nicht allzu ernst zu nehmen, was beim Einstiegstext ‚Schreckschraube und Wunderkind‘ recht mühelos gelingt, denn wer, ums Himmels Willen, interessiert sich schon für Sandra Maischberger oder Christiane Hörbiger? Andererseits: Die Absurdität der Fernsehunterhaltung ist selten besser geschildert worden. Dabei weist Autor Gärtner auch auf die von Hitler stammende Maxime, „eine Lüge müsse nur unverschämt genug sein, um mit Sicherheit geglaubt zu werden“ hin – sie ersetzt ganze akademische Bücherstapel zu diesem Thema.
Immer wieder schmunzelnd, manchmal auch laut heraus lachend – so erlebe ich die Lektüre. Dabei sind es hauptsächlich die Bemerkungen am Rande, die mich regelrecht begeistern. „… der FAZ-Kollege Jasper v. Altenbockum (der, nebenbei, genauso aussieht, wie er heisst)…“, trotzdem stört mich etwas ganz grundsätzlich an diesem Band: Ich mag mich nicht wirklich mit den ziemlich abseitigen Themen befassen, die mir die Massenmedienvertreter vorgeben und in die sich Autor Gärtner genussvoll und kritisch verbeisst. Wie kann man sich bloss, um ein Beispiel zu geben, mit der Rede eines Aussenministers (des Polen Radoslaw Sikorski) oder über die Frage, was Angela Merkel oder einen Spiegel-Journalisten wohl antreibt, ernsthaft auseinandersetzen? Anders gesagt: Womit man sich beschäftigt, scheint mir weit wesentlicher als wie man das tut.
„Es gehört zum Erkenntnisfortschritt der mittleren Jahre, dass Dummheit und Mittelmass sich immer durchsetzen, und Dreistigkeit tut’s sowieso.“ So isses! Allerdings ist es kein Ausweis von Durchblick, wenn man sich dann recht ausführlich mit ebendiesem wenig inspirierenden Mittelmass befasst. Andererseits: Täte Stefan Gärtner dies nicht, dann gäbe es auch diese seine Texte nicht.
Es findet sich viel Erhellendes in diesem Band, gelegentlich aber auch wenig Durchdachtes. So werden etwa die Autoren Markus Metz und Georg Sesslen mit der Aussage zitiert, die furchtbarsten Eigenschaften der Kleinbürger seien Angst und Gier, was das jedoch mit Kleinbürgern zu tun hat, erschliesst sich vermutlich nur denen, die sich für keine solchen halten, denn Angst und Gier – ist das nicht offensichtlich? – gehören zur Grundausstattung von uns allen.
Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Niklas Luhmann hat das geschrieben, 1995 war das. Dieser Satz ging mir bei der Lektüre von Tote und Tattoo immer mal wieder durch den Kopf. Anders gesagt: Stefan Gärtner schreibt über die Medienwelt – kritisch und witzig – , die mir mit ihren aufgeregten Debatten (ich kenne niemanden, dem Maxim Biller oder Judith Hermann oder … ein Begriff sind) ziemlich irreal vorkommt. Andererseits lässt sich an dieser medialen Welt aber eben auch sehr gut aufzeigen, auf welch eigenartige Art und Weise wir uns entschieden haben, unsere Zeit auf diesem Planeten zu verbringen.
Zu einem meiner persönlichen Favoriten in diesem Band gehört „Wie fühlt sich das an?“ (der andere heisst „Bül bül bül“), worin sich Autor Gärtner „Ein paar nüchterne Gedanken zu identitätspolitisch bewegter Wissenschaft und der Kritik an ihr“ macht und unter anderem festhält, „rassistisch, so ja auch der Tenor einer ganzen Reihe von Büchern zum Thema, sind alle, die nicht selbst Opfer von Rassismus sind“ – treffender geht kaum!
Fazit: Ein höchst unterhaltsames Plädoyer für nüchternes Denken.
Stefan Gärtner
Tote und Tattoo
Essays, Glossen, Kritik der Dummheit
Edition Tiamat, Berlin 2023
Sargans, am 17. März 2023
Wir leben in Zeiten, in denen weltweit derart viele Informationen zirkulieren, dass die Vorstellung, jemand könnte noch irgend etwas Ähnliches wie einen Überblick haben, geradezu grotesk erscheint. Um nicht vollständig in dieser ungeheuren Informationsflut zu ersaufen, muss unser Gedächtnis den sich immer schneller ansammelnden Müll immer schneller entsorgen. Dabei gerät auch unter die Räder, was besser nicht vergessen werden würde. Die Akte Pegasus, zum Beispiel.
Die Spionagesoftware Pegasus wurde von der israelischen Firma NSO entwickelt. Sie ist imstande, jedes Mobiltelefon vollständig zu überwachen, ohne Spuren zu hinterlassen. NSO startete einmal als Unternehmen, das seine Grundprinzipien ernst nahm. „Wir verkaufen nur an staatliche Institutionen und mischen uns nicht in ihr Handeln ein. Und wir werden diese Institutionen überprüfen, um sicherzustellen, dass sie die Menschen- und bürgerlichen Freiheitsrechte respektieren und sich an die Gesetze und Bestimmungen halten, die auch in Israel gelten.“
Das Leben lehrt uns, dass der (finanzielle) Erfolg einen Mechanismus in Gang setzt, der nach immer mehr giert, und dass, was auch immer der Mensch erfindet, sich (auch) gegen ihn wenden wird. Dazu kommt die Kommerzialisierung, die von der Profitmaximierung angetrieben wird, und die Möglichkeiten potentiell destruktiver Anwendungen ständig vorantreibt. Wir alle sind abhängig von Handys – und damit potentiell überwachbar. Wer glaubt, er habe nichts zu verbergen, wird von denen, die etwas von ihm wollen, letztlich eines Besseren belehrt.
Die Investigativjournalisten Laurent Richard und Sandrine Rigaud (am Rande: wer als Journalist nicht investigativ unterwegs ist, ist kein Journalist), aufgeschreckt nicht zuletzt durch die Ermordung von Berufskollegen (2021 waren es 55), begaben sich auf Spurensuche. Davon handelt dieses Buch, das sich streckenweise wie ein Thriller liest – und mich künftig noch etwas illusionsloser durchs Leben gehen lässt. Ich bin froh drum, denn es sind „unsere“ Illusionen, die die Mächtigen an der Macht halten.
„Wie die Spionagesoftware, Privatsphäre, Pressefreiheit und Demokratie attackiert“, so der Untertitel, steht zwar im Mittelpunkt dieses Buches, doch ist auch davon die Rede, wie die sogenannte Politik der Interessen funktioniert, bei der es wesentlich ums Geschäften geht – und dieses betreibt man mit allen, die einem Vorteile zu verschaffen vermögen, auch mit Diktatoren, wie die Autoren unter anderem am Beispiel von Aserbaidschan aufzeigen.
Es versteht sich: Spionagesoftware ist nicht per se schlecht. „Ein Mittel, um Übeltäter im Internet zu überwachen, wenn sie ihre potentiell tödlichen Pläne entwickelten“, kann sie selbstverständlich auch sein. Nach den Attentaten in Madrid mit zweihundert Toten und nahezu zweitausend Verletzten, erklärte David Vincenzetti vom Mailänder HackingTeam die Privatsphäre für wichtig, die nationale Sicherheit jedoch für wichtiger. „Fachleute der Sicherheitsbehörden stimmten ihm zu!“, notieren Richard und Rigaud offenbar entsetzt.
Soll die Privatsphäre wirklich sakrosankt sein? Also auch die von Gewalttätern und Pädophilen? Und was bedeuten Presse- und Redefreiheit wirklich? Leider bleibt eine vertiefte Auseinandersetzung mit solchen Fragen auf der Strecke – Pressefreiheit ist in der Praxis das Recht der Medieneigentümer ihre Meinungen zu verbreiten – , stattdessen liefert Die Akte Pegasus eine Geschichte von der Front, denn die Journalisten, die sich dafür eingesetzt haben, die Welt auf die Gefahren von Pegasus aufmerksam zu machen, befinden sich im Krieg.
Zu den Kriegerinnen, deren Mut dieses Buch wesentlich geprägt hat, gehört die Reporterin Khadjja Ismayilova aus Aserbaidschan, die mit den Worten zitiert wird. „Es ist wichtig, dass die Leute Beispiele von Journalisten sehen, die nicht aufgeben, wenn sie bedroht werden. Es ist wie im Krieg. Verlässt du deinen Schützengraben, wird er von den Angreifern übernommen … Du musst deine Stellung halten, sonst wird sie dir weggenommen, und dann bleibt dir noch weniger Raum, immer weniger Raum, der Raum schrumpft zusammen, bis du nicht mehr atmen kannst.“ Und sie gibt einen sehr konkreten Ratschlag: „Tu in deinem Hotelzimmer nichts, was dir unangenehm wäre, wenn es an die Öffentlichkeit käme.“
Laurent Richard & Sandrine Rigaud
Die Akte Pegasus
Wie die Spionagesoftware, Privatsphäre, Pressefreiheit und Demokratie attackiert
Droemer, München 2023