Peter Vajkoczy: Kopfarbeit

Seit ich mich im Jahre 2002 einer Hirnoperation unterzogen habe (wegen eines sogenannten Hemispasmus facialis, eines beschädigten Gesichtsnervs), fasziniert mich das Gehirn, seine Funktionsweise und auch die Arbeit der Gehirnchirurgen. Um es gleich vorwegzunehmen: Kopfarbeit (Was für ein genialer Titel!) ist ein herausragendes Werk! Nicht zuletzt natürlich, weil es mir einerseits von Neuem und höchst eindringlich klar machte, war für eine Gratwanderung ein Eingriff ins Gehirn darstellt, und andererseits wiederum die Angespanntheit des Oberarztes zu Bewusstsein brachte, als ich nach der Operation aufwachte, denn es ist ja keineswegs garantiert, dass noch alles so funktioniert wie es idealerweise sollte.

„Ich will sehen, wie es ihr geht, wenn sie aufwacht“, notiert der Chirurg, als er nach einer Operation in der Klinik bleibt. „Die Stunde der Wahrheit. Man wird es mir vermutlich nicht anmerken, aber innerlich bin ich jedes Mal angespannt. Besorgt. Unruhig. Wird sie sich bewegen können? Wird sie sprechen können?“ Ich habe damals die Besorgnis sowie die anschliessende Erleichterung des Oberarztes, als ich zu sprechen begann, klar realisiert.

Apropos Sprechen: Die Patientin, auf deren Aufwachen er wartete, konnte nach dem Eingriff zuerst nicht sprechen, doch das gab sich mit der Zeit und einigen Anstrengungen: Zu wissen, dass bei einer Linkshänderin sich die Sprachareale auf der rechten Seite befinden, ist für eine Eingriffsdiagnose bei weitem nicht ausreichend. Man muss zum Beispiel auch wissen, wo die Sprachfasern verlaufen, die die Areale miteinander verbinden. Im Kernspintomografen lässt sich der Sauerstoffverbrauch messen – wenn die Patientin also Wörter nachspricht, kann man sehen, wo der meiste Sauerstoff verbraucht wird. „Ein Problem dabei ist, dass die Patientin, während sie zum Beispiel ein Wort wie Banane nachspricht, zugleich daran denken könnte, wie sie eine isst und wie das schmeckt, sodass auch die Bereiche, die diese Gedanken ankurbeln, aufleuchten würden.“ Wie das gelöst wird, lesen sie in diesem packenden und hoch informativen Werk.

Was mich ungemein verblüfft an diesem Buch: Da beschreibt einer sehr detailliert Operationen am Gehirn – und es liest sich wie ein Thriller. Da reissen Gefässe ein, es kommt zu Blutungen, die gestillt werden müssen. Blut aufsaugen, die Quelle finden, mit der Pinzette das beschädigte Gefäss veröden. Während Stunden. Ich lese das alles mit angehaltenem Atem.

Ich bin selten derart vielfältig und differenziert aufgeklärt worden. So lerne ich etwa, dass die korrekte Lagerung des Patienten und seines Kopfes für den Erfolg eines neurologischen Eingriffs entscheidend ist. Zugegeben, das hat mich nicht erstaunt, doch dass die Vorbereitung der Operation eine gute Stunde (und manchmal länger) dauern kann, hingegen schon. Man könne sich die viele Technik im Operationssaal wie ein Flugzeugcockpit vorstellen, erfahre ich genauso wie dass auch die beste Vorbereitung einen nicht vor Überraschungen bewahrt.

Wie heikel und anspruchsvoll eine Gehirnoperation ist, lässt sich auch daran ermessen: „Im Gehirn fliessen pro 100 Gramm Gewebe zwischen 40 und 50 Milliliter Blut in der Minute. Wenn diese Rate auf unter zehn Milliliter absinkt, kommt es binnen weniger Minuten zur endgültigen Zerstörung der Zellen. Das Gehirn ist ein so komplexes wie fragiles Gebilde.“ Dazu kommt: „Das menschliche Gehirn ist ja bis heute ein recht geheimnisvolles Organ. Bestenfalls wissen wir 15 bis 20 Prozent von dem, was darin vorgeht und wie dies geschieht.“

Kopfarbeit ist ein erfreulich persönliches Buch. Peter Vajkoczy berichtet nicht nur von seinen Gefühlen vor, nach und während anstrengenden Operationen, seinem Bemühen, die jeweils richtige Entscheidung zu treffen sowie seinen Zweifeln, sondern auch von seiner Ausbildungszeit in Newark, New Jersey, wo die soziale Realität wenig mit den amerikanischen Idealen zu tun hat, doch wo er auch einen begeisternden Wissensdurst erlebt, der ansteckend ist.

Dieses Buch ist weit mehr als der Bericht eines Gehirnchirurgen über seine Arbeit. Es ist auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber, wie wir durchs Leben gehen wollen. „Für mich sind Demut und Verantwortungsbewusstsein, Dankbarkeit und Vertrauen, Verlässlichkeit und Ehrlichkeit. Disziplin, Durchhaltevermögen und wissenschaftliche Neugier das Fundament, auf dem unsere Arbeit aufbaut.“ Dass er sich bei schwierigen Entscheiden nicht an der Fachrichtung, sondern an der Person seines Vertrauens orientiert, ist mir überaus sympathisch. Auch gefällt mir, dass er Kollegen und Lehrer namentlich erwähnt und ihnen seinen Respekt bezeugt.

Kopfarbeit ist ein Buch, das mich regelrecht begeistert. Das liegt an Peter Vajkoczys Haltung, die durchgehend spürbar ist und viel mit Offenheit, Neugier und einer Lernbereitschaft zu tun hat, die selten ist. „Als Operateur, als behandelnder Arzt beobachte ich immer wieder Zusammenhänge, die wir nicht erklären können; immer wieder konfrontieren uns bestimmte Krankheiten, Komplikationen oder Reaktionen auf Eingriffe mit Fragen, die ich dann mit ins Labor nehme und die wir in unserem Team aus Nachwuchswissenschaftlerinnen, -wissenschaftlern, Ärztinnen und Ärzten sowie technischen Assistentinnen zu klären versuchen.“ Und es liegt daran, dass der Autor es exzellent versteht, zu beschreiben, was er wahrnimmt, sich überlegt und tut – und das ist eine Kunst.

Fazit: Aufklärung vom Feinsten! Berührend, bewegend und zutiefst menschlich.

Peter Vajkoczy
Kopfarbeit
Ein Gehirnchirurg über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod
Droemer, München 2022

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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2 Kommentare

  1. Sehr geehrter Herr Dürrer, ich stehe ebenfalls vor der Frage, ob ich mich wegen Hemispasmus facialis operieren lasse oder nicht. Haben Sie die Krankheit überwunden oder gab es einen Rückfall?

    Freundliche Grüße, Anna

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