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Erste Schritte

Jeremy Adler: Goethe

Für jemanden wie mich, der so recht eigentlich, abgesehen von Schulerinnerungen, wenig von Goethe weiss, ist dieses umfangreiche Werk in erster Linie eine überaus reichhaltige Fundgrube. „Was Giorgio Vasari über Michelangelo sagte, könnte auch auf Goethe gemünzt sein: ein ‚Geist (…), allvermögend in jeder Kunst und jedem Beruf‘, dem zudem ‚wahre Philosophie und die Zierde der hohen Dichtkunst‘ eigen sei.“

Es versteht sich: Jede Biographie ist auch, wenn nicht vor allem, ein Dokument der eigenen Wahrnehmung. Hier ein Gedicht Goethes, das Jeremy Adler als leichtfüssig, humorvoll und mit einem Hang zur Selbstironie bezeichnet: „Vom Vater hab‘ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütterchen die Frohnatur / Und die Kunst zu fabulieren. / Urahnherr war der Schönsten hold, / Das spukt so hin und wieder, / Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, / Das zuckt wohl durch die Glieder. / Sind nun die Elemente nicht / Aus dem Complex zu trennen, / Was ist denn an dem ganzen Wicht / Original zu nennen?“ So zutreffend Adlers Einschätzung auch ist, ich selber lese da auch hinein, dass wir kaum mehr als die genetische Fortführung unserer Ahnen sind. Und da Goethe Gefühlsschwankungen, auch heftige, nicht fremd waren, wird er vermutlich gelegentlich auch so gefühlt haben.

Was dieser Goethe nicht alles gewesen ist! „Er ist Dichter, Dramatiker. Romancier, Novellist Essayist, Literaturkritiker, Kunstkritiker, Kulturkritiker. Biograph, autobiographischer Autor, Tagebuchschreiber, Briefschreiber, Übersetzer, Herausgeber, Philosoph, Naturwissenschaftler, Künstler, Sammler, Theaterdirektor, Beamter und Staatsmann.“

Weshalb man sich für ein Buch interessiert, ist bekanntlich individuell verschieden (auch wenn wir so verschieden, wie wir uns einbilden, wohl kaum sind). In meinem Falle ist es vermutlich das Universale, also das, was heutzutage unter „fächerübergreifend“ läuft. Mich fasziniert diese organische Weltschau, die ich mit Weisheit in Verbindung bringe. Eindrücklich zeigt Jeremy Adler auf, dass Goethes Denken nicht nur auf zahlreiche Wissensgebiete ausstrahlte und viele ganz unterschiedliche Denker beeinflusste, sondern dass auch er von ganz vielen, ganz unterschiedlichen Denkern beeinflusst worden ist. Goethe repräsentiert „Europäische Weltweisheit“, wie eines der Kapitel überschrieben ist.

Doch wie kommt es eigentlich, dass so viele herausragende Geister sich auf Goethe berufen? Und auf ganz unterschiedlichen Gebieten wie etwa der politischen Ökonomie. „Er befreundete sich mit Experten, doch liess er sich von diesen Kennern nicht einschüchtern, und indem er jedes Thema auf der Grundlage universellen Denkens in einen weiteren Kontext und jeden Gegenstand in sein unmittelbares, natürliches Umfeld stellte, vermochte er dessen Parameter sehr genau und überzeugend aus Grundprinzipien abzuleiten.“

Jeremy Adlers Goethe ist derart konventionell gebildet, und dabei von ungeheurer Dichte, dass es mich nicht nur beinahe erschlägt, sondern mich völlig überfordert. Anders gesagt: Man sollte mehr als nur neugierig sein, um dieser geballten Ladung europäischer Bildung den Respekt zu erweisen, den sie verdient. Ein Beispiel: „Die Erwähnung von Missolonghi im oberen Zitat mag an Byrons Tod dort erinnern, aber sie hat auch eine politische Bedeutung: Goethe beschwört hier den Philhellenismus, der in den Jahren 1820 bis 1829 Deutschland überwältigte und zu einer liberalen – auch nationalen – europäischen Bewegung führte. Derart platziert Goethe sein Drama in einen politischen Kontext, und zwar in das Zeitalter des europäischen Liberalismus. Die Pointe dieser Strategie liegt nicht zuletzt auch in der Herstellung eines kosmopolitischen Dramas bzw. darin, ein Beispiel für Weltliteratur zu liefern.“ Ich selber bin weder mit Byron noch mit Deutschland in den Jahren 1820 bis 1829 noch mit allem anderen vertraut …

„Gefühl ist alles“ steht über einem Kapitel, das unter anderem zeigt, dass Goethe auch ein guter Selbstdarsteller bzw. ein begabter Verkäufer war. „… schuf er einen Mythos seiner selbst als eines Repräsentanten seiner Zeit – worin die deutsche Geschichtsschreibung ihm folgt, wenn sie von der ‚Goethezeit‘ spricht.“ Doch was bedeutet der Satz „Gefühl ist alles“ aus Faust? „Wie auch bei Vertretern der Philosophie besitzt das Gefühl für Herder und Goethe eine kognitive Funktion.“

Goethe zu lesen, sei „stets eine Einladung, neu zu denken und neu zu fühlen“, und dies ist natürlich mit ein Grund, weshalb er nicht wirklich zu fassen ist. Kein Wunder, hatte er für Denker, die nicht im Systemdenken unterwegs waren, eine besondere Bedeutung. Natürlich gab es auch Persönlichkeiten, die ihn bzw. einige seiner Charakterzüge kritisch sahen. So meinte etwa Beethoven: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr – mehr als es einem Dichter ziemt.“ Jeremy Adler ist sich allerdings nicht so sicher, ob Goethe sich in der Rolle als Höfling so wohl fühlte.

Goethe ist ein monumentales Werk und nicht zuletzt eine ungeheure Fleissarbeit – der Anhang alleine beträgt mehr als hundert Seiten! Aus dieser Fülle ein wunderbar lesbares Buch zu machen, ist auch deswegen eine herausragende Leistung, weil Jeremy Adler es schafft, gleichzeitig höchst detailliert zu berichten und Wesentliches herauszuschälen. Für mich bedeutet das Sätze wie: „Kennzeichnet das Mittelalter die Liebe zu Gott, so wird die Moderne durch den Wissensdurst definiert.“ Oder: „In wenigen Worten vermag Goethe seine Erkenntnistheorie zu skizzieren: ‚Alles was im Subject ist, ist im Object.’“

„So möchte ich denn eine neue Art Buch schreiben“, so der Autor, „die Goethe in seinen vielfältigen Verbindungen zu seinen Vorgängern wie auch Nachfolgern zeigt, und hoffe, auf diese Weise seine Stellung innerhalb des westlichen Zivilisation demonstrieren zu können.“ Dies ist ihm zweifellos gelungen. Darüber hinaus weist er auf Zeitloses hin, wenn er etwa Goethes „Verbindung von Organischem und Rationalem, von Bewusstsein und Unbewusstem“ herausstreicht und betont: „Ethik und Ästhetik gehören zusammen.“

Fazit: Glänzend geschrieben, hoch gebildet, faszinierend, und bereichernd.

Jeremy Adler
Goethe
Die Erfindung der Moderne / Eine Biografie
C.H. Beck, München 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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