Sarah Moss: Sommerwasser

Schottland, eine Ferienanlage im Sommer.

Frühmorgens, es regnet. Justine macht sich bereit zum Laufen, wobei ihr vielerlei Alltägliches und Praktisches („Beim Laufen im Regen ist entscheidend, so wenig wie möglich anzuhaben, die Haut ist wasserundurchlässig, es sind die nassen Stoffschichten, wegen denen man friert, von der Reibung gar nicht zu reden.“) durch den Kopf geht. Beim Laufen wird sie ohnmächtig. Sie solle sich nicht überfordern, nicht weit laufen und niemals alleine, wird ihr geraten. „Aber was sollte jemand anders denn machen, wenn ihr Herz stehen bleibt? Was würde es bringen, einen Zeugen zu haben?“

Auch David, ein pensionierter Arzt, sucht die frühmorgendliche Einsamkeit. Er beobachtet Justine beim Laufen („… aber Wandern ist nicht Laufen, dabei ist ja keine Zeit zum Gucken und Hinhören.“). Auch er macht sich vielerlei Gedanken, vor allem darüber, wie seine Frau Mary auf dies und das reagieren würde. Der Eindruck, den mir die beiden hauptsächlich vermitteln: Eine Beziehung ist ein Gefängnis; nie kann man machen, wonach einem ist, ständig hat man Rücksicht zu nehmen, muss man sich verleugnen.

Sehr dicht, sehr differenziert und atmosphärisch stimmig wird dies vorgetragen. Sarah Moss ist eine genaue Beobachterin, deren Protagonisten ständig interpretierend unterwegs sind und sich unablässig Gedanken machen. Das führt zu einem eigenartig beliebigen Nebeneinander wie es wohl vielen, die intellektuell unterwegs sind, bekannt sein dürfte. Auf mich wirkte das einerseits anregend, da es mich oft wie magisch in die Geschichte reinzog, andererseits dann wiederum befremdend. Etwa, dass Milly (in der Geschichte mit dem Titel „Sansibar“) beim Liebesakt mit Josh Gedanken zu dessen Mutter und zur Polyesterfüllung der Bettdecke durch den Kopf gehen – nicht, dass ich das unwahrscheinlich finden würde, doch lohnt es sich wirklich, jeden Gedanken aufzuzeichnen? Vielleicht, wenn einem eine Satire vorschwebt. Anders gesagt: Mich macht Sommerwasser einigermassen ratlos.

Andererseits: „ … Nachdenken nützt nichts, aber sie kann nicht anders, als sich vorzustellen …“. Zugegeben, das ist aus dem Zusammenhang gerissen, doch es fasst eben auch ganz gut zusammen, wie ich die Lektüre dieser Geschichten (es ist kein Roman, auch wenn das Buch so bezeichnet wird, es handelt sich um eine Sammlung von ganz unterschiedlichen Erzählungen, die aufeinander zwar Bezug nehmen, doch nur am Rande) erlebe: Ich tauche gerne ein in diese Bewusstseinsbeschreibung, die natürlich nicht alles beschreibt, was den Protagonisten (Frauen wie Männer) so durch den Kopf geht (das ist nicht möglich, die Gedanken – oder was wir als solche bezeichnen – sind viel zu schnell, als dass wir sie alle erfassen könnten), sondern eine Auswahl darstellt, eine faszinierende notabene.

Es passiert ausschliesslich Alltägliches in diesen Geschichten vom Regen, den die Autorin so gut beschreibt, dass man ihn auf der Haut und in den Kleidern spüren kann. „… Jeans ist furchtbar im Regen, saugt Wasser auf wie nichts Gutes, wer in den Bergen nichts verloren hat, sieht man daran, wer Jeans trägt …“. Wer Lust auf Regen hat, ohne nach draussen gehen zu wollen, lese dieses Buch.

Es sind Beziehungsgeschichten (nicht nur zwischen Erwachsenen, sondern auch von Kindern, die ausgesprochen grausam sein können), die Sarah Moss erzählt. Der ständige Lärm, den dieses Geplapper im Kopf verursacht, wird unterbrochen durch kurze Einschübe, die von Autobahnen im Himmel, Rehkitzen im Wald und Anderem handeln, und dazu beitragen, dass Ruhe einkehrt, man sich erholen kann von dem Beziehungsgedankenlärm.

Sommerwasser (gerade den Sommer mit so viel Wasser zu versehen, ist eine bestechende Idee) bewirkt, dass ich nicht nur den Regen, sondern Wasser überhaupt, intensiver wahrnehme. Insbesondere auch seine vielgestaltigen Auswirkungen. „Feuchte Bäume absorbieren die höheren Frequenzen, Nässe und Holz schlucken die Energie, sodass nur der Bass in den Kopf eindringt und dort das Trommelfell bearbeitet.“

Fazit: Eine originelle und überzeugende Wahrnehmungsschulung.

Sarah Moss
Sommerwasser
Unionsverlag, Zürich 2023

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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