Dem Menschen fehlt es an Aufrichtigkeit sich selber gegenüber. Er geht mit einem Bild von sich durchs Leben, das hauptsächlich von Selbstbetrug geprägt ist und so bleibt er sein Leben lang wie er glaubt, dass er sei, ausser es geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Und genau dies ist bei der zweiundsiebzigjährigen Cloris Waldrip der Fall, die am 31. August 1986 den Absturz eines Kleinflugzeugs überlebt. „Mr Waldrip hatte nicht wissen können, dass er auf dem Kalender den Tag markierte, an dem er in einem Baum landen und ich in der Wildnis stranden würde, aber genau so verlaufen unsere schicksalshaften Momente nun mal.“
Bei dem Absturz der kleinen Maschine kommt der Pilot und Clotis‘ Mann ums Leben. Ihr selber gelingt es, das Funkgerät zu aktivieren und einen Notruf abzusenden. Dieser wird von der sich mit Merlot betäubenden Rangerin Debra Lewis gehört, die es schafft, mit ihrem Team die Absturzstelle zu lokalisieren, doch Cloris schlägt sich zu der Zeit bereits durch die Wildnis. Als der Suchtrupp sie schliesslich ausfindig macht, nimmt sie Reissaus – sie kann sich nicht mehr vorstellen, in ihr gewohntes Leben zurückzukehren. Und auch Debra sucht ein neues Leben.
In der Wildnis trifft Cloris neben einem Maskierten (durch den sie lernt, der gängigen Moral zu misstrauen) auch auf einen Berglöwen. „Ich sass mit dem Beil in der Hand auf dem Kalkstein und wartete darauf, dass die Katze zurückkam. Es ist schon seltsam, wie sich manchmal die Gedanken verselbstständigen, sobald eine Gefahr abgewendet ist, und je mehr ich überzeugt war, dass das Katzenvieh nicht mehr zurückkehren würde, desto mehr grübelte ich wieder über die Vergangenheit nach und dachte über die Bilanz meines Lebens nach …“. Schon eigenartig, dass wir glauben, Bilanz ziehen zu müssen. Und umso eigenartiger angesichts der Tatsache, dass wir in den sogenannt entscheidenden Momenten gar nicht wirklich da zu sein scheinen (oder sind wir genau dann wirklich da?). So wurde Cloris nach ihrer Rettung immer wieder von jungen Menschen gefragt, was ihr im Moment des Absturzes durch den Kopf gegangen war. „Ich kann mich nicht erinnern, auch nur einen klaren Gedanken gehabt zu haben.“
Da sie nur knapp dem Tod entronnen ist, macht sich Cloris naturgemäss Gedanken zum Tod. „… ich erinnere mich noch, wie sehr mich der Gedanke beeindruckte, dass manche Menschen in solchen Augenblicken ihre Gottesfurcht offenbaren. Keiner von uns verhielt sich damals so, wie wir es fast unser ganzes Leben getan hatten.“ Über die fünf Trauerphasen von Kübler-Ross meint sie: „Sie meint es bestimmt gut, aber ich glaube dennoch nicht, dass sie recht hat. Die Trauer hat zahllose Phasen, und kein Mensch wäre in der Lage, sie alle zu benennen.“
So unterschiedlich Cloris und Debra auch sein mögen, beiden ist das gesellschaftliche Korsett zu eng geworden, beide erfahren: „Moral ist nicht der Anker des Guten, und jeder einzelne Mensch ist viel mehr als das, wozu wir ihn zum Zwecke unserer eigenen Bequemlichkeit machen möchten.“
Die flüssig erzählte Geschichte zeichnet sich neben cleveren Einsichten („Soweit ich das beurteilen kann, nehmen wir alle in Kauf, dass wir andere Menschen in Schwierigkeiten bringen, wenn wir nur bekommen, was wir haben wollen.“) durch Fantasie und viel Humor aus. „Man weiss nie, welche Hirngespinste der Geist herbeizaubert.“ Oder: „Ich fürchte langsam, dass ich, wie Psychologen es ausdrücken, eine Narzisstin bin. Melinda, meine ausgesprochen nette schwarze Therapeutin hier bei River Bend Assisted Living, glaubt das zwar nicht, aber ich schon. Vielleicht kennt sie mich einfach nicht gut genug.“
Cloris lese ich weniger als Abenteuerroman denn als Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen unserer Existenz. Was wissen wir eigentlich, ja, was können wir wissen? Und vor allem: Wie sollen wir leben? Können wir das überhaupt entscheiden. „Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass wir keine Wahl haben, wen oder war wir begehren. Von dem Moment an, da wir wissen, was wir wollen, sind wir verloren. Ich möchte den Menschen mitnichten vorwerfen, dass sie wissen, was sie wollen. Ich werfe ihnen höchstens vor, dass sie alles dafür tun, es zu bekommen, ohne sich über die Konsequenzen Gedanken zu machen.“
Rye Curtis
Cloris
C.H. Beck, München 2020