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Erste Schritte

Hari Kunzru: Red Pill

Der Ich-Erzähler, verheiratet, eine dreijährige Tochter, wohnhaft in Brooklyn, ist Autor, wird sich seiner Sterblichkeit bewusst, gerät in eine Krise und erhält von einer Berliner Kulturstiftung ein dreimonatiges Stipendium. Ihm und seiner Frau ist klar, dass sein Berlin-Aufenthalt an seinem Lebensproblem etwas ändern sollte.

Im Deuter-Zentrum wird ihm eine Arbeitsstation in einem Grossraumbüro zugewiesen, nur muss er für sich sein, wenn er schreibt. Doch die Regeln des Zentrum-Gründers sind strikt, sie lassen sich nicht ändern. Frustriert erkundet der Stipendiat, Vater Inder, Mutter Engländerin, der nicht an nationale Literaturen glaubt, die nähere Umgebung und stösst auf das Grab von Heinrich von Kleist, den er als Hysteriker und „Verfasser schriller Stücke und fragmentarischer Geschichten voller Hektik, Schlachten, Erdbeben und psychischer Schocks“ begreift.

Selten war mir so bewusst, wie langweilig, selbstbezogen, eigenartig, ja bizarr, die akademische Welt funktioniert. Kleist lesen, sich mit Wirtschaftsgeschichte oder Politologie beschäftigen und dafür ein Stipendium kriegen, ja bezahlt werden? Im Deuter-Zentrum werden die Stipendiaten angehalten, über ihre „Aktivität“ Rechenschaft abzulegen. „Meine Lösung bestand darin, meine Zeit abzusitzen“, so der Protagonist, der oft mehrere Stunden am Tag fernsieht, vor allem Blue Lives, eine Serie über zivile Cops und „wie sie sich an Leuten vergriffen“. Erwachsene gibt es nicht, habe ich einmal gelesen, nur Leute, die so tun als ob.

Er ist eigenbrötlerisch, egozentrisch und unehrlich, doch er ist auch sensibel und unsicher, und er fühlt sich beobachtet. Monika, die Putzfrau, mit der er das Gespräch sucht, klärt ihn auf … Und jetzt wird es spannend, richtig spannend …

Monika war in der DDR Schlagzeugerin in einer Frauen-Punk-Band gewesen – das ist so frisch und intensiv geschildert, dass man glaubt, vor Ort mit dabei zu sein. Dann wird sie von der Stasi als Informantin rekrutiert, das liest sich ungemein beklemmend. Selten wurde mir eindrücklicher vorgeführt, wie raffiniert und brutal dieser Unterdrückungsapparat funktionierte. Niemandem konnte man trauen, Verrat war allgegenwärtig. Nichts war so wie es den Anschein hatte.

Bei einer Party kommt der Ich-Erzähler mit Anton, dem Regisseur von Blue Lives, ins Gespräch, der in seiner Serie auf Heraklit, Schopenhauer, Cioran und vor allem, Joseph de Maistre, einen französischen Gegenaufklärer (kurzum: ein Reaktionär, der die Auffassung vertrat, die Erde sei ein Schlachthof) aus dem achtzehnten Jahrhundert, Bezug nimmt. „Glauben Sie das wirklich? Dass es ein Kampf jeder gegen jeden ist? Dass wir in der Hölle leben?“

Anton ist ein arroganter Rassist, der den Deuter-Stipendiaten bewusst provoziert und sich das Mietfrei in Ihrem Kopf zum Ziel gesetzt hat, was ihm auch gelingt. Red Pill (die zunehmende Mode deutscher Verlage, sich englischer Titel zu bedienen, spricht für einen Mangel an Fantasie) führt auch vor, wie erfolgreiche Themensetzung funktioniert.

Die existenzielle Krise, vor welcher der Protagonist aus Brooklyn nach Berlin geflüchtet ist, holt ihn ein, wird stärker, vertieft sich. Ist er, wie Anton meint, ein verweichlichter Liberaler? Warum gibt es eigentlich Menschenrechte, sind sie vielleicht eine Fiktion, die wir uns einreden?, will er von seiner Frau Rei, einer Menschenrechtsanwältin wissen, die diesen Fragen genauso ausweicht wie er der Konfrontation mit ihrem gemeinsamen Leben in New York.

Er folgt Anton nach Paris, anschliessend nimmt er den Zug in die schottischen Highlands, dann die Fähre zu einer der Inseln, zu Antons unbewohnter Hütte. Dort quartiert er sich ein und schreibt – über die Zerstörung der Natur, den Menschen als cleveren Affen und anderes mehr. Auch offenbart sich ihm Antons Geheimnis.

Die Apokalypse ist im Anzug. „Ich begriff nicht, wie Menschen so selbstgefällig und zufrieden sein konnten, nicht angesichts der Dinge, die da vorgingen.“ Das Buch endet mit der Wahlnacht vom 8. November 2016, als Clinton, die der Ich-Erzähler nicht schätzt, doch dem Rüpel, der schliesslich gewann, klar vorzieht, verlor. Die Apokalypse kommt näher …

Red Pill ist eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit den Überzeugungen und Vorstellungen, die unsere Zeit charakterisieren, und macht deutlich, dass es einer neuen Art zu denken und zu fühlen bedarf – spannend erzählt, immer wieder verblüffend und überaus anregend.

Hari Kunzru
Red Pill
Liebeskind Verlag, München 2021

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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