Daniel Gascón: Der Hipster von der traurigen Gestalt

Ein wohlmeinender Naivling aus der Stadt zieht aufs Land. Warum jemand von der Stadt aufs Land zieht, hat natürlich unterschiedliche Gründe, Geld und Liebeskummer figurieren dabei meist prominent. Im Falle von Enrique ist es die Ex-Freundin, die er zu vergessen versucht.

Die Selbstverständlichkeiten der Stadt, von Hola Coffee zu Email Empfang, sind auf dem Land unbekannt. Ebenso die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit und Identitätspolitik, weshalb denn auch Enrique, der sich auf einer Mission wähnt, den Workshop Neue Männlichkeit initiiert. Der Andrang ist mässig, gerade mal fünf Frauen haben sich eingefunden. Doch Enrique tut, was alle Missionare tun, er redet sich die Tatsachen schön. „Das scheint wenig, doch prozentual gesehen ist es doch beachtlich.“

Auch die Gespräche verlaufen auf dem Dorf etwas anders als es sich der Städter gewohnt ist. Als Ramiro in der Bar sagt, „die Politiker seien alle gleich und wollten sich nur bereichern“, versucht Enrique zu relativieren, schwafelt von vielleicht voreiligen Schlüssen und differenzieren, worauf Ramiro fragt, ob er ihn für bekloppt halte. Wunderbar!

Daniel Gascón erzählt die Geschichte vom Hipster von der traurigen Gestalt sowohl aus der Perspektive Enriques wie auch aus der Sicht der Dorfbewohner (oder, um mit Helmut Kohl zu sprechen, „der Menschen draussen im Lande“), die mit abgehobenem Idealismus zu ziemlich gar nichts anfangen können. Sehr witzig und sehr treffend zeigt Autor Gascón auf, was passiert, wenn die Borniertheit der sich aufgeklärt Wähnenden auf die selbstgebastelte Realität der Landbewohner trifft. Sagt Mohammed: „Dass ich Schinken esse, hat ihn erst mal irritiert, aber ich hab ihm gesagt, es gibt einen Hadith, worin steht, das ist erlaubt, wenn der Schinken eine Herkunftsbezeichnung hat.“

Die verschiedenen Sichtweisen, die zu Sprache kommen, zeigen die Welt so komplex wie sie nun einmal ist. Weder sind sich die Dorfbewohner einig, noch liegt der Städter, der sich der „kollaborativen Horizontalität“ verpflichtet fühlt, ständig daneben. Und das ist das Schöne an diesem Buch: Beide Seiten kommen ähnlich deppert rüber.

Enrique will Bürgermeister werden. Als er dem amtierenden Bürgermeister eine Kandidatenrunde vorschlägt, um zu verstehen, was die Bürger beschäftigt, meint dieser: „Dafür braucht man keine öffentliche Debatte.“ Und so befragt Enrique die Bürger direkt, erhält jedoch wenig ermutigende Antworten. Ein Mann mit Schafen sagt, er gehe nie wählen, er sei Demokrat, weil ihm alles egal sei. Und Mohammed sagt, „es gebe zu viele Ausländer. Da seien einige Rumänen gekommen, die auf einer Baustelle am anderen Ende der Tenne arbeiten; er sagt, sie hätten andere Sitten und würden sich nicht integrieren.“

Als es Enrique dann gelingt, einen entlaufenen Stier zu stellen, sind alle verwundert, doch niemandem ist wirklich klar (auch ihm selber nicht), wie er das geschafft hat. Die Erklärungsversuche sind preiswürdig, denn wie immer, wenn der Mensch keine Ahnung hat, nehmen die Spekulationen ungeahnte Ausmasse an und vergrössern die Ratlosigkeit.

So absurd und aberwitzig dieser Roman auch wirken mag, er ist viel näher bei der Realität als das, was in der Zeitung steht. Anders gesagt: Die Realität hat die Satire längst überholt. Sehr schön zeigt Daniel Gascón das unter anderem an der heutzutage zelebrierten Meinungsvielfalt, wo jedem Schwachkopf (die weibliche Variante ist mir nicht geläufig) das Recht auf die eigene Meinung zugestanden wird; die Pflicht sich kundig zu machen, bevor mal das Maul aufreisst, gilt schon lange nicht mehr als nötig.

Dem ungefragt in die Welt geworfenen Individuum ist es aufgegeben, sich zu orientieren, denn schliesslich muss es irgendwo Halt finden. Bei der Fülle an Informationen, mit denen wir modernen Menschen ständig zugeschüttet werden, ist das zunehmend schwierig geworden. Wem nichts Besseres einfällt, verlegt sich auf die wirklich wichtigen Fragen: Die korrekte Sprache und die richtige Gesinnung. Was dabei herauskommt, schildert Daniel Gascón scharfsinnig und lustig, dabei auch meinungsbildende progressistische Zeitschriften zu Rate ziehend, um die das Gewissen peinigenden Sinnfragen zu lösen: „Ein Artikel warf die Frage auf, ob es aus feministischer Sicht akzeptabel sei, ohne BH zu frühstücken, und es wurden mehrere Gender-Expertinnen zu Rate gezogen.“

Daniel Gascón
Der Hipster von der traurigen Gestalt
Verlag Antje Kunstmann, München 2023

Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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