Zugegeben, ich habe mich schon gefragt, ob ich als heterosexueller Mann ein Buch besprechen soll/will, das gemäss dem Untertitel davon handelt, wie Rebecca Solnit Feministin wurde. Ausschlaggebend für meinen Entschluss war letztlich jedoch nicht das Thema, sondern Solnits Weltsicht, die ich aus ihren Büchern kenne und schätze, insbesondere Wanderlust, Aus der nahen Ferne und ihren Text über Eadweard Muybridge.
Rebecca Solnit lebt in San Francisco, einer Stadt, in der ich schon oft war, und in die ich mich jetzt versetzt fühle, als ich von dem „kleinen Viertel von grosser und vilefältiger Spiritualität“ lese, wo sie einst wohnte. „Als ich viele Jahre später etwas Zeit in New Orleans und an anderen Orten der Südstaaten verbrachte, fühlte ich mich dort auf eine verblüffende Weise zu Hause, und mir wurde klar, dass dieses kleine Stück Westcoast damals ein Aussenposten der schwarzen Südstaaten gewesen war.“
Geboren ist sie 1961, war also zu einer Zeit jung, die sich wesentlich von der heutigen unterschied. „Wir waren den Wundern und Frustrationen der Unvorhersehbarkeit ausgesetzt und besser gegen sie gewappnet, denn die Zeit floss damals gemächlich dahin, auch wenn sich das erst im Rückblick so ausnimmt (…) Wir waren auf Begegnungen mit Fremden vorbereitet, vor denen das digitale Zeitalter uns später bewahren würde.“
Wir gehören einer Gesellschaft an, „die uns alle beschädigt, uns Frauen ganz besonders“, schreibt sie. Die Geschichten über die Beschädigungen, die sie in diesem Buch erzählt, machen mich zum Teil fassungslos und zum Teil wütend. Doch Solnit stellt der Dominanz von Ignoranz und Gier auch Geschichten von Wärme und Menschlichkeit gegenüber.
Sie war arm in jungen Jahren, las Bücher in der Buchhandlung im Stehen und kriegte eines Tages von einer Frau, die ein Mann zu ermorden versucht hatte, einen Schreibtisch geschenkt – „ein Sprungbrett für meine Stimme.“ Feminismus, in Solnits Verständnis, meint übrigens, dass wir alle, ungeachtet unseres Geschlechts, eine Stimme haben und gehört werden sollen.
Von der Gewalt gegen Frauen (sie ist selber als Kind einer von Gewalt geprägten Ehe aufgewachsen), denen schon früh beigebracht wird, dies und jenes nicht zu tun, um sich nicht in Gefahr zu bringen (all das, was junge Männer problemlos tun dürfen), schreibt sie, und davon, dass so recht eigentlich Männer Krieg gegen Frauen führen. Frauen und Mädchen werden nicht gejagt und angegriffen wegen irgendetwas, was sie getan hätten, sondern weil sie Frauen und Mädchen sind. „Nicht dafür, wer, sondern dafür, was sie waren. Was wir waren. Tatsächlich allerdings deshalb, weil er war, was er war: ein Mann, der das Verlangen und, wie er meinte, auch das Recht hatte, Frauen etwas anzutun.“
Sie lebt in Büchern, darunter solchen, die sie wieder und wieder liest. Ich werde neugierig auf Ursula K. Le Guins „Erdsee“-Bücher, Milan Kunderas „Das Buch vom Lachen und Vergessen“ und auf Willa Cather, von der meine Mutter einige Werke besessen hatte. „Durch Bücher zu leben hiess gleichzeitig, nicht zu existieren und in vielen anderen Leben, Gedankenwelten und Träumen zu existieren und die eigene vorgestellte Existenz wie auch die Existenz der eigenen Vorstellung zu erweitern.“
Natürlich äussert sie sich auch zum Schreiben und zitiert Diane di Prima: „Ohne eine Kosmologie kann man keine einzige Zeile schreiben.“ Das meint, man muss seine Stimme finden, aus dem eigenen Herzen sprechen – und das erfordert Mut. Höchst anregend fand ich auch Solnits Bezug zur Kunst, die für sie bedeutet, „dass jegliche Prämisse in Frage gestellt, jedem Problem nachgegangen und in jede Situation eingegriffen werden konnte, und ich verstand die bildende Kunst bald als eine Art philosophisches Hinterfragen mit anderen Mitteln.“ Für jemandem, der mit Kunst vornehmlich eitle Wichtigtuer assoziiert, ist das ein überaus hilfreicher Augenöffner.
Ein Leben sollte in seinen Verästelungen geschildert werden, nicht in einer langen Linie, notiert sie einmal. Dieses nicht-lineare Vorgehen, das die Welt immer wieder neu zusammensetzt, prägt nicht nur Unziemliches Verhalten, sondern ihr Schreiben insgesamt.
Fazit: Hellsichtig und eigensinnig, überzeugend und lehrreich.
Rebecca Solnit
Unziemliches Verhalten
Wie ich Feministin wurde
Hoffmann und Campe, Hamburg 2020