Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ gehört zu meinem Bildungspensum, was meint: Ich habe das Buch nicht gelesen. Zwar bin ich immer mal wieder darauf gestossen, in Essays, Artikeln und in Zitaten – geblieben ist mir jedoch nichts.
„Auf der Suche“ lasse sich leicht zusammenfassen, lese ich im Vorwort, „da es kaum eine Handlung gibt; es ist der Lebensbericht eines Erzählers, dessen grösster Wunsch es von Kindheit an ist, Schriftsteller zu werden.“ Proust hält seinen Vater, einen bekannten Professor für Medizin, für „ziemlich naiv“ und dessen Gier nach Titeln und Anerkennung für albern; das Verhältnis zur Mutter, der er sehr verbunden ist (und sie ihm), ist teilweise zwiespältig – er findet sie besitzergreifend, kritisiert ihren sozialen Konservatismus.
Wie jedes andere Buch auch, so gehe ich Proust lesen mit einer Erwartungshaltung an. Ich stelle mir vor, dass ein Proust-Enthusiast mich an seiner Begeisterung für den Autor von „Auf der Suche“ teilhaben lässt und diese auf mich überspringt. Saul Friedländer hat jedoch anderes im Sinn – er möchte ergründen, was Proust „im Sinn zu haben oder zu verbergen scheint – um anhand der Aussagen des Erzählers die versteckten Hinweise oder Verschleierungsversuche des Autors zu verstehen.“
Die Geschichte des Erzählers sei nicht Prousts Autobiographie, doch sie komme ihr nahe, behauptet nicht nur Friedländer, auch andere Autoren sehen das so. Für mich ist das offensichtlich, schliesslich kann man nur davon berichten, was man kennt, also von sich selbst. Diejenigen, die sich professionell mit Literatur auseinandersetzen, sehen das anders und wehren sich meist dagegen (jedenfalls habe ich diesen Eindruck), Geschriebenes mit Autobiographischem gleichzusetzen. Überschneidungen, sicher, die mag es nicht nur geben, sondern sind fast unvermeidlich, doch Leben und Werk gehören getrennt. Ich finde das nicht, weshalb ich denn auch Proust lesen mit Sympathie angehe, obwohl ich ganz anders lese als Saul Friedländer – mich interessiert so recht eigentlich nur, wie etwas auf mich wirkt, was ein Autor meint, meinen könnte oder auch nicht, beschäftigt mich hingegen kaum.
Saul Friedländer spürt nicht nur der komplexen Beziehung von Erzähler-Ich und Autor nach, ihn interessiert ganz besonders die Haltung Prousts gegenüber den Juden. Dabei staune ich, wie der Mann liest – sehr genau, sich ständig fragend, analysierend und interpretierend. „Die Einfälle des Erzählers führen uns zu einem weiteren Detail, das im vorangegangenen Kapitel erwähnt, aber nicht ausgeführt wurde. Ich fragte mich, warum das Aussehen der Eltern nirgends beschrieben wird, aber liess die Frage ungeklärt. In Anbetracht des Versuchs, die Mutter zu einem ‚Kind‘ von Combray zu machen, scheint es mir nun, als läge der Grund für die Vermeidung klar auf der Hand: Die Mutter sah jüdisch aus, oder genauer gesagt, sie muss in den Augen des Autors jüdisch ausgesehen haben …“.
Auch mit seiner Homosexualität, die er in seinem gesellschaftlichen Umgang nicht verbarg, geht Proust bzw. der Erzähler widersprüchlich um. Und wiederum rätselt Friedländer, warum er das wohl tut und vermutet wohl zu Recht und wenig überraschend: „Nach meinem Dafürhalten vermutete Proust wohl, dass ein offen homosexueller Roman viele Leser abstossen würde.“ Andererseits fügt er gleich hinzu: „Die Romane André Gides jedoch schienen das Gegenteil zu beweisen. Ist das also wirklich die Antwort? Ich weiss es nicht.“
Nichts könnte mir fremder sein als einen Text nach Verborgenem, Vorenthaltenem, Verheimlichten zu erkunden (ich halte Motivforschung für aberwitzig und anmassend), weshalb mich denn auch Friedländers Vorgehen einigermassen ratlos lässt. Ist es denn nicht das Privileg des Autors, verschiedene Facetten seiner Persönlichkeit darzustellen? Möglicherweise aus Freude am Spiel. Oder einfach darum, weil er es kann? Und überhaupt: Entzieht sich denn nicht das Meiste, das wir tun unserem Wissen-Können?
Saul Friedländers Lesen suggeriert und impliziert ein aussergewöhnlich geplantes und durchdachtes Schreiben, das natürlich durchaus der Fall sein kann, doch es möglicherweise gar nicht ist, vielmehr viel unbewusster vonstatten geht als ein Leser (und ganz besonders ein akademischer) sich das vorstellen mag, denn das Unbewusste entzieht sich so recht eigentlich der Analyse und mithin der Sinngebung, da es per definitionem nicht gewusst werden kann. Wie heisst es doch so treffend im Talmud: Wir sehen die Dinge nicht wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.
Proust lesen ist geprägt von des Autors Entdeckerfreude, die ihm mannigfaltige Einsichten beschert, etwa „dass Albertine und die Gruppe von Mädchen, denen der Erzähler in Balbec begegnet, wie wir bereits sahen, allesamt getarnte junge Männer sind.“ Dass er bei der Auseinandersetzung mit Prousts Werk auch an den sein Leben begleitenden Schmerz, verursacht durch den Verlust seiner Mutter, erinnert wurde, macht deutlich, dass sein hoch aufmerksames, reflektierendes Lesen auch Unbewusstes hervorzubringen vermag. So schliesst sich der Kreis am Ende dieses Essays gleichsam: Die Suche nach dem Verborgenen bei Proust brachte (auch) das Verborgene bei ihm selber hervor.
Saul Friedländer
Proust lesen
C.H. Beck, München 2020