Tilman Jens, 1954-2020, Journalist, Autor und Filmemacher, litt über zwanzig Jahre lang an Diabetes. Darüber wollte er ein Buch schreiben, herausgekommen ist jedoch etwas anderes. Ein Lebensbericht, ein unvollendeter. Tilman Jens hat seinem Leben am 29. Juli 2020 ein Ende gesetzt.
Sein Buch Demenz. Abschied von meinem Vater habe ich vor allem als Dokument des (unguten) Verdrängens in Erinnerung. Die Freiheit zu leben und zu sterben wirkt auf mich (so ehrlich es sich auch liest) genauso. Es könnte/dürfte/sollte – auch – Anlass sein, sich mit den eigenen Verdrängungsmechanismen auseinanderzusetzen.
„Ich habe früh mein Lebensmuster gefunden. Jede Form der Einschränkung, ob nun bei der Arbeit, beim Trinken oder Schlemmen, die mir wohlmeinende Ärzte zunehmend nahelegten, widersprach meinem Naturell. Einen gewissen Mangel an Weitsicht kann ich nicht leugnen. Mass und Diät halten mögen bittschön andere.“ Ein Idiot, denkt es in mir. Stur und egozentrisch. Soll ich mir dieses Buch wirklich antun? Ich lese weiter …
„Mein Lebensplan war eindeutig. Arbeiten, solange es irgend geht.“ Daran hat er sich gehalten. Die Arbeit rettet ihn vor sich selber, sein Journalisten-Dasein erlebt er als Selbsttherapie – Sucht scheint mir angemessener. Wie es engagierten Reportern so eigen ist, erzählt er, wo er alles dabei war – von Konfliktherden und Abenteuerlichem rund um den Globus bis zur Sterbebegleitung in Zürich. Ganz besonders angesprochen hat mich seine Begegnung mit dem Zeichner Horst Janssen, dessen Credo mir genau so gut gefällt wie dem Autor: „Um mich herum ist das reine Chaos, in mir ist die reine Harmonie.“
Timan Jens, ein Aussenseiter mit Sympathien für Aussenseiter, zeichnet in diesem Bekenntnis auch ein wenig erfreuliches Bild der Mainstream Medien. Besonders ihre Reaktion auf seine Demontierung Reich-Ranickis (dessen Spitzeltätigkeit für den polnischen Geheimdienst dieser lange bestritt) könnte deutlicher nicht machen, wie unreflektiert sie, ganz im Gegensatz zu ihm selber, oft agieren. „Ich habe möglicherweise einiges bewirkt in meinen bald fünfzig Berufsjahren. Aber ein gewisser Hang zum Grobianismus, den ich auch im Umgang mit mir selber walten liess, lässt sich schwer leugnen.“
Zwei Zehen hat der Diabetes gefordert, sie mussten amputiert werden. „Der Zerfall schreitet voran. Ich kann ihm zusehen.“ Seinen Kollegen, Freunden und Bekannten verschweigt er seinen Zustand. Aus Scham. Und auch aus Angst, er könnte möglicherweise keine Jobs (er ist hundertprozentiger Freischaffender) mehr kriegen.
Mit über sechzig zieht er zu seiner Freundin nach Sarajevo. Wunderbar, wie er diese aus der Zeit gefallene Stadt beschreibt, mit Handwerkern, die Professionen betreiben, die es anderswo schon lange nicht mehr gibt – ich möchte sofort hin.
Tilman Jens weiss, was das Fortschreiten seines Diabetes bedeutet. Er will nicht zum Pflegefall werden. Und obwohl er den stressgesteuerten Diabetes selber verursacht, lässt er von seinem ungesunden Lebenswandel nicht ab. „Ich log mich durchs Leben, soff wie ein Loch – und flüchtete, wann immer ich konnte.“ Ändern mag er das nicht. Obwohl: „Im Rückblick erschreckt mich die Rücksichtslosigkeit, mit der ich damals wegen eines Fernsehstücks, von dem ich nicht lassen wollte, mit mir umgegangen bin. Die Verleugnung von Krankheit und Schwäche ist keine Heldentat, sondern ein Armutszeugnis, ein Mangel an Demut. Ich machte dennoch in gewohntem Tempo weiter. Nachhaltige Reue? Fehlanzeige.“
Er weiss, wer er ist, versteht, wie er tickt. „Ich bin ein durchaus sensibler Beobachter, an Empathie, an tätigem Mitgefühl aber hat es mir oft gefehlt.“ Das Bild, das er von sich zeigt, wird ergänzt durch ein Nachwort von Heribert Schwan und eine Erinnerung von Matthias Jim Günther.
Die Freiheit zu leben und zu sterben ist ein eindrückliches Dokument der Selbst-Reflexion, das unter anderem deutlich macht, dass aufrichtig zu sein, keine Kursänderung zur Folge haben muss, denn eine solche muss gewollt werden. Doch wer weiss schon, weshalb wir wollen, was wir wollen?
Tilman Jens
Die Freiheit zu leben und zu sterben
Ein Bekenntnis
Ludwig Verlag, München 2021