„Was die Erfahrung und die Geschichte lehren, ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben“, meinte bekanntlich Hegel. Johannes Krause und Thomas Trappe sehen das offenbar anders. Gemäss der Verlagsinformation zeigen sie in diesem Werk, „was wir aus der Vergangenheit für unser Überleben lernen können – und welche Gefahren in der zügellosen Kraft des Menschen liegen.“
Hypris ist in zehn Kapitel unterteilt, denen jeweils eine kurze Inhaltsangabe vorangestellt ist, die zum Zweck hat, des Lesers Neugier zu wecken – und dies gelingt, jedenfalls in meinem Falle, bestens. Das erste Kapitel handelt von der Archäogenetik, dem Forschungsgebiet von Johannes Krause, dem ein Grossteil dieses Werkes gewidmet ist; das letzte Kapitel davon, dass die Evolution uns auf unserem weiteren Weg nicht helfen wird.
Das Buch ist vielfältig bebildert und enthält zahlreiche aufschlussreiche Grafiken – das ist höchst ansprechend und gestalterisch clever gemacht. Ausgesprochen gelungen sind auch die Zwischentitel, die anregender kaum sein könnten. Hier einige Beispiele: „Unfähig zum Masshalten“ (hier geht es nicht etwa um Sucht, sondern um eine Erweiterung der Speisekarte), „Ein fataler Hang zu Statussymbolen“, „Eine verhängnisvolle Mutation“. Und mein Liebling „Die vergebliche Suche nach uns selbst.“
Den beiden Autoren geht es darum, „die Frage in den Vordergrund treten zu lassen, wie es gelingen kann, das 21. Jahrhundert zu einem neuen Kapitel des Erfolgs, nicht des Scheiterns zu machen.“ Ihr Ausgangspunkt ist die DNA, „der wir – anders als alle anderen Spezies – aber nicht machtlos ausgeliefert sind. Oder es zumindest nicht sein müssen.“ Doch weshalb sollte man eigentlich versuchen, im Labor Gehirne zu „neandertalisieren“? Weil man damit vielleicht dem Geheimnis dieses Organs auf die Spur kommt, denn wir wissen nach wie vor nicht, was den Menschen zum Menschen macht.
„Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern“, wie der Untertitel heisst, ist zuerst einmal eine Reise zurück zu den Ursprüngen und damit zu unseren ausgestorbenen Vorfahren, den Neandertalern, deren Lebensmittelpunkt Höhlen waren, in denen auch eine gute Befeuerung möglich war, schliesslich lebten sie im Europa der Eiszeit.
Angesichts der modernen Wettervorhersagen, deren Genauigkeit auch für den nächsten Tag recht schwankend sein können, wundere ich mich schon etwas über die gewaltigen Zeitabstände, mit denen die beiden Autoren operieren und über die sie anscheinend glauben, verlässliche Angaben machen zu können. „Das Endzeitalter des Miozäns, das vor 23 Millionen Jahren begann und vor 5,3 Millionen Jahren endete, bot für die Ausbreitung des Menschenaffen geradezu ideale Voraussetzungen.“ Ihre häufigen Bezugnahmen aufs Klima finde ich einleuchtender – die klimatischen Veränderungen im Verlaufe der Geschichte waren offenbar enorm und machen mich immer mal wieder staunen, dass da überhaupt jemand überlebte.
Mein besonderes Interesse gilt derzeit den Pandemien und auch dazu äussern sich Johannes Krause und Thomas Trappe. 1346 kam der Pesterreger nach Europa; Pestleichen wurden erfolgreich als biologische Waffen eingesetzt, die Verbreitung des Pestbakteriums tat ein Übriges. „Mindestens 7000 mittelalterliche und neuzeitliche Ausbrüche wurden seitdem allein in Europa gezählt, und einer der vorerst letzten war jener in Madagaskar im Jahre 2017. Sämtliche Pandemien – auch die dritte Pandemie, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Hongkong ihren Ausgang nahm – fussten auf dem einen Bakterienstamm, der vor knapp 700 Jahren mit präziser Gewalt verbreitet wurde.“
Corona sei nicht vergleichbar mit dem Schwarzen Tod, so die Autoren, doch dass ein Pathogen mit einer solchen Schlagkraft sich über den Globus verbreitet, sei nicht auszuschliessen. Ebola ist so ein Kandidat gewesen und konnte nur des wenig intensiven globalen Waren- und Menschenverkehrs unter Kontrolle gebracht werden. Eine der derzeit grössten Gefahren für hochinfektiöse und tödliche Erreger ist die Massentierhaltung. Warum dem so ist? Die Antwort findet sich im Buch.
Dass der Mensch sich zur bestimmenden Spezies entwickelt hat, ist wesentlich seinem Eroberungsdrang zu verdanken, bei dem die Konkurrenz rücksichtslos aus dem Weg geräumt wurde. „Heute, da diese Herrschaft den gesamten Planeten umgreift, haben wir den letzten Gegner vor uns: uns selbst.“
Fazit: Erhellend und wesentlich.
Johannes Krause / Thomas Trappe
Hybris
Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern
Propyläen, Berlin 2021