Ein Holzstich unbekannter Herkunft zeigt einen Wanderer, der den Rand der Welt erreicht hat. Und was jetzt?, fragt Olga Tokarczuk. Um dann mit der Beobachtung fortzufahren: „Die Welt ist klein – im Lauf des vergangenen Jahrhunderts ist sie stark geschrumpft.“ Fernsehen, Telefon, Internet, Handy. Wir machen die Erfahrung, „dass auch das Repertoire an Rollen und Möglichkeiten endlich ist und dass die Menschen einander stärker ähneln, als unsere Vorfahren je gedacht hätten.“ Das fühlt sich eigenartig und auch etwas ernüchternd an. Ist die Welt etwa weniger exotisch, als man sich das gedacht hat? „Hinzu kommt der Eindruck von Überfüllung, begrenztem Raum, der immerwährenden Anwesenheit fremder Menschen …“. Distanz ist nötig, um die Dinge richtig zu sehen; Fotos der Erdkugel aus dem All erinnern uns an das Übergeordnete, das wir so selten wahrnehmen.
Dies einige der Gedanken aus dem ersten Essay dieses Werkes. „In meinem Schreiben versuche ich immer, das Augenmerk und die Sensibilität meiner Leser und Leserinnen auf das grosse Ganze zu lenken.“ Sie vermisst „Ex-zentriker“, die fähig sind, weit-umspannend zu denken, beklagt, dass die Universitäten ihre Rolle als Wissenserzeuger und Wissensvermittler verloren haben, da sie mit dem an-Land-Ziehen von Aufträgen und Fördermitteln ausgelastet sind. Viel kränker als unsere Wettbewerbsgesellschaft geht kaum.
Apropos „das grosse Ganze“: Ich staune über das Wissen von Olga Tokarczuk, die sich offenbar bei den Pythagoräern genauso auskennt wie beim anarchistischen Diogenes, und der die jüdisch-christliche Tradition ebenso vertraut zu sein scheint wie die antiken Philosophen oder Descartes, Kant und Jeremy Bentham. Dabei wird mir bewusst, dass mir diese Art des Gebildet-Seins wohl immer fremd sein wird – auch weil mich die gängigen Zusammenhänge nicht interessieren.
„Ich sagte ihr, dass ich sehr gerne Montaigne lese, aber nicht in einem Zug von vorne bis hinten, sondern von Zeit zu Zeit, indem ich seine Essais an einer beliebigen Stelle aufschlage und seinen Ausführungen folge, zum reinen Vergnügen und um meine eigenen Gedanken zu klären“, schreibt sie in „Wie Übersetzer die Welt retten“. Und genau so lese ich diese Übungen im Fremdsein. Sie liest Montaigne übrigens in der polnischen Übersetzung, was Vorteile hat, denn sein Französisch sei archaisch, veraltet und erfordere viel Konzentration, wie ihr eine französische Bekannte, ebenfalls Schriftstellerin, erklärt.
Zu den mich besonders nachdenklich machenden Texten gehört „Die Masken der Tiere“, was natürlich auch daran liegt, dass mich das Leiden der Tiere bislang höchstens gestreift, also nicht wirklich erreicht hat. „In der buddhistischen Philosophie gibt es den Begriff des ‚fühlenden Wesens‘. Er wird allgemein als Bezeichnung sowohl des Menschen als auch anderer, nicht-menschlicher Lebewesen gebraucht.“ Wer sich für diese beiden Sätze Zeit nimmt, sie bedenkt und wirken lässt, der kann gar nicht anders als zu erkennen, dass die Welt ganz anders ist, als wir sie bisher wahrgenommen haben. „Wenn man einmal ‚erkannt‘ hat, ist das Einzige, was einem bleibt, eine ‚mitfühlende Vorstellungskraft‘ zu entwickeln, das heisst Mitgefühl oder, in der Begrifflichkeit der westlichen Psychologie, Empathie.“
Olga Tokarczuk weist auch auf Jane Goodall hin, der beim Betrachten von Schimpansen, die unter einem kleinen Waldwasserfall badeten, aufgegangen ist, „dass ihrem Verhalten eine Art Nachsinnen über die Bewegung innewohnte, dass auch sie die Fähigkeit zur Reflexion, zu einem tiefen, ergreifenden Sein-in-der-Zeit besitzen. Dass womöglich auch sie etwas wie unsere religiöse Erfahrung erleben.“
Wie Bilder so triggern auch Texte eine Unzahl an Gedanken und Emotionen, von denen einige auch im Zusammenhang mit dem gerade Gelesenen stehen. Wer einmal in die Augen eines Pferdes gesehen habe, könne keinen Zweifel haben, dass Tiere leiden, geht mir durch den Kopf. Und genauso die Empfindung als Kind: Wer einen Ast von einem Baum abtrennt, fügt dem Baum eine Wunde zu.
Olga Tokarczuk fasziniert, „was die herkömmlichen Grenzen überschreitet, gegen die als selbstverständlich akzeptierten Normen rebelliert“; sie will die Welt beschreiben, wie sie ist, in ihrer ganzen Komplexität, und das kann nur gelingen, wenn man sich aufmacht, diese Welt auch sinnlich zu erfahren. Fern des Gewohnten, auf Reisen, lässt sich das Fremdsein üben – es ist nötiger denn je.
Olga Tokarczuk
Übungen im Fremdsein
Essays und Reden
Kampa, Zürich 2021