„Ich starb im November“, so lautet der erste Satz in diesem Buch. Und so hat sich das der an Krebs erkrankte Michael Jürgs wohl auch vorgestellt. Gestorben ist er dann jedoch am 4. Juli dieses Jahres. Zuvor hat er noch „Post mortem“ geschrieben, denn Schreiben war das, was zu ihm gehörte und ihm half. „Noch ein ziemlich guter Satz fiel mir ein, während ich durch den graunieseligen Vormittag fuhr, an dem der Nebel so tief hing, dass ich das andere Ufer der Elbe nicht sehen konnte. Die Schreibmaschine sei sein Psychiater, weil sie den ersetze. Ein Bekenntnis, das viele unterschreiben würden, die schreiben. Ich bekenne mich dazu, Mitglied dieses Clubs zu sein“, hat er in einem Artikel über Siegfried Lenz geschrieben.
„Was ich nach meinem Tod erlebte und wen ich im Jenseits traf“ lautet der Untertitel zu diesem Text, der wesentlich ein journalistischer ist und das meint hier: ein informativer und aufklärender. So erfährt man etwa, dass die Lungenembolie ein sanfter Tod ist, „tatsächlich ein Bruder des Schlafes“. Und dass nach Meinung vieler Psychiater die Todesangst eine stärkere menschliche Triebfeder ist als die Sexualität.
Journalismus soll auch unterhalten und so kommen auch die zum Schmunzeln einladenden Anekdoten nicht zu kurz. „Mein Grossvater, der so fest im Glauben an sein künftiges Sein zu Füssen des Allmächtigen verwurzelt war, dass er sogar vor dem Fernsehapparat zu knien pflegte, wenn an Ostern der päpstliche Segen ‚Urbi et orbi‘ übertragen wurde …“.
Er berichtet von Vater und Mutter, dem Selbstmord seines Bruders, den ihm dieser jetzt im Jenseits erklärt – LSD Trips hatten eine schizophrenen Schub ausgelöst, von dem er sich nie richtig erholte. Und natürlich muss er auch ihnen erzählen, was seit sie im Jenseits sind, so alles passiert ist. Dass es da jetzt das Internet gibt und me too, wer Macron ist und wer Merkel und was die AfD und und und … Das alles ist sehr amüsant geschildert.
Er trifft nicht nur auf Berühmtheiten wie Willy Brandt, Gutenberg, Picasso, Shakespeare, Gründgens, Fontane und Brecht, sondern lässt auch die eloquente und streitbare ehemalige Ministerin in Brandenburg, Regine Hildebrandt, „geliebt im Osten, verhasst im Western“, zu Wort kommen. Mir gefällt, dass er diese Kämpferin und auch Henry David Thoreau erwähnt, der sich unter anderem für das Recht auf gewaltfreien Widerstand gegen staatliche Gewalt stark machte.
Die Begegnungen, die er schildert, sind zwar fiktiv, was Jürgs seinen Gesprächspartnern in den Mund legt jedoch – so stelle ich mir es vor, der Mann war doch Journalist – nicht gänzlich frei erfunden. „Viele begreifen moderne Kunst schon allein deshalb nicht, weil ihnen nie beigebracht wurde, sie zu begreifen“, lässt er Picasso sagen. Dieser Egomane hatte übrigens den Kontakt zu seinen Kindern abgebrochen, nachdem ihn ihre Mutter, Françoise Gilot, verlassen hatte.
Auch Anderes, was man komischerweise häufig unter Klatsch subsumiert, macht Jürgs publik – auch das gehört zum Journalisten. Wie etwa Einsteins Zungenfoto zustande kam (genialer geht Selbstvermarktung kaum) und dass Katharine Hepburn und Spencer Tracy 25 Jahre lang ein heimliches Liebespaar waren, da sich der überzeugte Katholik Tracy nie hätte scheiden lassen – der Katholizismus hat wahrlich eigenartige Blüten getrieben.
Für Michael Jürgs war die Neugier Lebenselixier, das zeigt sich an der Breite der Themen und an seinem vielfältigem Wissen. Über Rock und Pop schreibt er, wie auch über den Film und das Theater. Karl Lagerfeld lässt er genau so auftreten wie den unsäglichen Streber Roger Willemsen, der ein Gespräch zwischen Verlegern moderiert. Einen besseren Einfall fand ich, dass er den Einstieg von Kafkas ‚Das Schloss‘, Uwe Johnsons ‚Jahrestage‘, Jerome D. Salingers ‚Fänger im Roggen‘, Rosamunde Pilchers ‚Sommer am Meer‘ (wegen Irmgard Keun) sowie von Wolfgang Herrndorfs ‚Tschick‘ wiedergibt, denn es gibt nun einmal keine bessere Verführung zur Literatur als solche Einstiege. Überhaupt die Literatur – Jürgs Begeisterung dafür (wie übrigens auch für den Fussball und so recht eigentlich für alles) springt einen geradezu an und überträgt sich auf den Leser. Ich jedenfalls legte unverzüglich Griegs Peer Gynt-Suite auf, als er seinen Vater darüber zu Wort kommen lässt.
Michael Jürgs
Post Mortem
Was ich nach meinem Tod erlebte und wen ich im Jenseits traf
C. Bertelsmann, München 2019