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Erste Schritte

Noam Chomsky / Marv Waterstone: Konsequenzen des Kapitalismus

Der vorliegende Band versammelt Vorlesungen, die die beiden Autoren in den letzten drei Jahren an der University of Arizona gehalten haben. Es handelt sich um den Versuch, den systemischen Grundlagen unserer existenziellen Lebensumstände auf den Grund zu gehen. Der Reichtum der hier präsentierten Informationen ist höchst beeindruckend.

„Gesunder Menschenverstand, das Selbstverständliche und die Macht“ ist das erste Kapitel überschrieben, das sich mit der Frage auseinandersetzt. „Woher wissen wir eigentlich, was wir über die Welt zu wissen glauben?“ Dabei machen die beiden Autoren deutlich, dass der sogenannte gesunde Menschenverstand oder common sense keine feststehende universelle Kategorie ist, sondern wie alles andere auch, dem Wandel unterworfen ist. Die Sicht eines Herrschenden ist zwangsläufig verschieden von der Sicht eines Beherrschten. Daraus folgt, dass „zu jeder bestimmten Zeit und an jedem bestimmten Ort zahlreiche Varianten des gesunden Menschenverstandes“ miteinander in Konkurrenz stehen.

Common sense hat einen fluiden Charakter, er ist veränderbar. Wie kommt es also, dass Herrscher und Beherrschte ganz ähnlich zu denken scheinen? Das liegt an der Propaganda bzw. der Herstellung von Konsens. Anstatt vom gesunden Menschenverstand zu sprechen wäre es angebrachter vom herrschenden gesunden Menschenverstand bzw. vom kapitalistischen gesundem Menschenverstand zu sprechen.

Nehmen wir den Vietnamkrieg: „Da waren die Falken, die sagten, dass wir vielleicht gewonnen hätten, wenn wir uns mehr angestrengt hätten, und dass uns wahrscheinlich all die Leute, die gegen den Krieg protestierten, wahrscheinlich den Sieg gekostet haben. Die zweite Gruppe waren die Tauben“, die behaupteten, „der Krieg habe mit ’stümperhaften Versuchen, Gutes zu tun‘, begonnen. Woher wissen wir das? Weil es ein Axiom ist, eine notwendige Wahrheit. Wenn die USA es getan haben, wollten sie damit Gutes tun. Dazu bedarf es keinerlei Beweises, sondern nur des herrschenden gesunden Menschenverstands.“

Nur eben: Die Mehrheit der Bevölkerung hatte, wie Untersuchungen ergaben, eine völlige andere (in den Medien nicht präsente) Vorstellung: Sie war der Auffassung, dass der Krieg „grundlegend falsch und unmoralisch (…) und nicht nur ein Fehler“ war.

Selten ist mir offenbarer geworden, in was für festgefahrenen und irreführenden Denkschablonen wir gefangen sind. Zu den Mythen, denen viele aufsitzen, gehört die Überzeugung, die USA wünschten sich weltweit Demokratien. Als in Chile Allende demokratisch an die Macht kam, wollten sie dann allerdings gar nichts davon wissen, bezeichneten als Marxismus, was in Wirklichkeit lediglich sozialdemokratisch war. Die CIA, auf Anordnung der Regierung Nixon und speziell von Kissinger, orchestrierte einen Militärputsch. Das Resultat: 100 000 Getötete, eine halbe Million Gefolterte.

Auch der amerikanische Exzeptionalismus ist übrigens ein Mythos. „Alle imperialen Mächte der Geschichte haben dieselbe Doktrin des Exzeptionalismus vertreten.“. Nicht nur die imperialen Mächte, will ich da hinzufügen – als Schweizer weiss ich mich sowieso exzeptionell, und vermute den Liechtensteinern geht es genauso.

Zu den Mythen, denen die meisten anhängen, gehört auch, dass die Demokratie das sei, was sie vorgibt zu sein: Ein einigermassen gerechtes politisches System. Dass dem nicht so ist, wusste bereits 1895 der damals berühmte Wahlkämpfer Mark Hanna. Was man für einen erfolgreichen Wahlkampf brauche, wurde er einmal gefragt. „Es gibt zwei Dinge, die man benötigt. Das erste ist Geld, und ich habe vergessen, was das zweite ist.“ Gore Vidal, der in der amerikanischen Polit-Aristokratie bestens vernetzte Autor, meinte einmal, Politiker seien nichts anderes als Sprachrohre der Industrie.

Konsequenzen des Kapitalismus setzt sich mit ganz Unterschiedlichem auseinander, darunter – ich gebe hier die Kapitelüberschriften wider – „Kapitalismus und Militarismus“, „Kapitalismus versus Umwelt“, „Neoliberalismus, Globalisierung und Finanzialisierung“, „Widerstand und Reaktion“, „Soziale Veränderungen“. Mir fehlt zwar der einschlägige Bildungshintergrund, um die meisten Ausführungen der Autoren beurteilen zu können, doch der common sense der beiden steht mir um einiges näher als derjenige, der sich der kapitalistischen Mythen bedient.

Zu letzteren gehört, dass Angebot und Nachfrage eine Art Naturgesetz seien, und dass das Profitdenken uns allen Wesensmerkmal sei, auf dass alles noch besser, noch toller und noch schöner werden möge. Nicht für alle, doch immerhin für einige. Romeo Dallaire erklärt in Shake Hands with the Devil wie kanadische Soldaten über die Welt aufgeklärt werden, ausgehend von hundert Leuten: „Fifty percent of the wealth of the world is in the hands of six people, all of whom are Americans. Seventy people are unable to read or write. Fifty suffer from malnutrition due to insufficient nutrition. Thirty-five do not have access to safe drinking water. Eighty live in sub-standard housing. Only one has a university or college education. Most of the population of the globe live in substantially different circumstances than those we in the First World take for granted.“

Konsequenzen des Kapitalismus zeigt auch anhand von Covid-19 auf, wie – um es höflich zu sagen – problematisch es ist, wenn man das Leben nach dem Profit-Imperativ ausrichtet. Simpel gesagt: Mit Prävention, die durchaus möglich gewesen wäre, lässt sich kein Geld verdienen. Zudem: Obwohl niemand sicher ist, solange nicht alle geimpft sind, könnte die weltweite Verteilung der Impfdosen ungerechter nicht sein. „Auf jeden Toten in einem reichen Land kommen vier in den ärmeren Ländern.“

Die Autoren erwähnen übrigens – es ist das erste Mal, dass ich das lese – , dass die chinesische Regierung keineswegs, wie das fälschlicherweise behauptet wurde, „sechs Tage lang, vom 14. bis zum 20, Januar 2020. wichtige Informationen zurückgehalten“ habe. Merke: Keine Krise, so gravierend sie auch sei, die nicht auch zur Propaganda missbraucht würde.

Nicht unerwähnt bleibt, dass die Pandemie auch positive Effekte zeigte. Nicht zuletzt, „dass mancherorts das ewige neoliberale Mantra, demzufolge ‚der Staat nicht die Lösung, sondern das Problem ist‘, auf den Kopf gestellt wurde. Die Länder und Regionen, die am effektivsten mit der Pandemie umgegangen sind, sind zugleich diejenigen, in denen es eine klare und konsistente Führung gab, die das Vertrauen der Menschen genoss.“

Die Welt ist nicht einfach so wie sie ist, sie wurde dazu gemacht. Und das meint: Sie kann auch ganz anders gestaltet werden. „Die Atomwaffen können durchaus abgeschafft werden, ein Vorschlag, der kaum so leichterhand als Utopie abgetan werden kann, ist er doch von so bekannten ‚Friedensfreunden‘ wie Henry Kissinger und dem Aussenminister Ronald Reagans, George Schultz, vertreten worden.“

Selten hat mir ein Buch deutlicher gemacht, mit was für einer manipulierten Herdenmentalität wir unterwegs sind. Andere Arten bzw. Grundsätzliches zu denken wird als gegen den gesunden Menschenverstand gerichtet disqualifiziert. Doch was heutzutage unter gesundem Menschenverstand läuft, ist eine Perversion, die auf einem Weltbild des Menschen als gierigem Nimmersatt aufbaut. Es ist der grösste Erfolg des kapitalistischen gesunden Menschenverstandes, uns glauben zu machen, dass wir wirklich so sind.

Fazit: Ein Buch, das uns zu einem nüchternen Blick auf die Welt verhilft. Und darüber hinaus deutlich macht, dass Einsichten ohne entsprechendes Handeln für die Katz sind.

Noam Chomsky / Marv Waterstone
Konsequenzen des Kapitalismus
Der lange Weg von der Unzufriedenheit zum Widerstand
Westend, Frankfurt am Main 2022

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Veröffentlicht von hansdurrer

Geboren 1953 in Grabs/Schweiz. Buchveröffentlichungen: Ways of Perception: On Visual and Intercultural Communication (White Lotus Press 2006), Inszenierte Wahrheiten. Essays über Fotografie und Medien (Edition Rüegger 2011), Framing the World: Photography, Propaganda and the Media (Alondra Press 2011), Warum rennen hier alle so? Die Erfahrung der eigenen und der fremden Kultur (Edition Rüegger 2013), Wie geht das eigentlich, das Leben? Anregungen zur Selbst- und Welterkundung (neobooks 2017), In Valparaíso und anderswo. Momentaufnahmen (neobooks 2018), Herolds Rache. Thriller (Fehnland Verlag 2018), Harrys Welt oder Die Sehnsucht nach Sinn. Ansichten und Einsichten (neobooks 2019), Gregors Pläne. Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern (neobooks 2021), Die Flucht vor dem Augenblick (neobooks 2022). Die Welt will betrogen sein: Über Gehorsam, Gier und Selbstvermarktung (neobooks 2023).

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