
Bei Nussbaumen, Thurgau, am 22. März 2023
Hans Durrers Buchbesprechungen
Bei Nussbaumen, Thurgau, am 22. März 2023
Furchtbar, denkt es so in mir, dieser vermutlich von Marketing Eseln (und Eselinnen) zu verantwortende englische Buchtitel für die deutsche Übersetzung dieses englischen Romans, auch natürlich weil ‚Wandernde Seelen‘ ausgesprochen gut geklungen hätte, jedenfalls in meinen Ohren.
Mein Interesse an diesem Buch gründet in meiner Südostasienzeit, in der Vietnam und alles, was damit zusammenhängt (Menschen, Landschaft, Klima, Bücher, Essen etc.), einen besonderen Platz eingenommen hat. Zu erinnern dabei: Der Vietnamkrieg wird in Vietnam amerikanischer Krieg genannt,
Die Geschichte beginnt im Jahre 1978 in Vung Tham, einem Dorf in Zentralvietnam, in dem man Françoise Hardys Tous le garçons et les filles hören kann (es sind solche Details, die mich sofort für diesen Text einnehmen), und die Geschwister Anh, Thanh und Minh von ihren Eltern angehalten werden, sich zum Aufbruch bereit zu machen – sie wollen in die USA fliehen.
Die Autorin Cecile Pin, in Paris und New York aufgewachsen, kam im Alter von 18 nach London, wo sie Philosophie studierte, hat ihren Roman ziemlich verwirrend gegliedert. Jedenfalls, was die Chronologie anlangt. So folgt nach der Schilderung der Flucht durchs Südchinesische Meer im Dezember 1978, der Bericht eines Zeitungsredakteurs vom November 1979 über die Gräueltaten, die thailändische Fischer an vietnamesischen Flüchtlingen begingen, der wiederum von Geschehnissen vom Dezember 1978 gefolgt wird. Es versteht sich: Vieles, was damals vorgefallen ist, wusste man erst im Nachhinein. Nur eben: Der Erzählerin Cecile Pin war dies alles bekannt. Es gibt also für mein Dafürhalten keinen guten Grund für dieses chronologische Hin und Her.
Andererseits: Die gelegentlichen Texteinschübe haben mich beeindruckt. Etwa über das Trauern, das auch auf Camus‘ Meursault Bezug nimmt. „In den Augen anderer gibt es eine angemessene Art zu trauern: nicht zu wenig und nicht zu sehr. Doch ein Teil des Trauerns findet hinter den Kulissen statt, ein Teil ist nur uns und den Verstorbenen bestimmt. Und ich glaube, in dieser intimen Zusammenkunft, fern von den Massen und ihrem Urteil, finden wir Trost.“
Dieses Buch will bewahren, was wir Menschen nur allzu schnell vergessen. Cecile Pin ruft mir ins Gedächtnis und lässt mich von Neuem miterleben, was mich damals unter anderem umtrieb – das Schicksal der boat people. Dabei erinnere ich mich auch – schon eigenartig, wie das Gehirn funktioniert – an einen vietnamesischen Bekannten, der dreiundzwanzig Mal vergeblich versucht hatte, das Land zu verlassen und heute in Tennessee lebt.
Die drei Geschwister landen im Flüchtlingslager Kai Tak, Hongkong, wo entschieden wird, in welchem Land sie Aufnahme finden werden. „Das Resettlement Office war eine Lotterie mit Gewinnern und Verlierern. Die USA waren der heilige Gral aller Zielländer (…) Deutschland und Italien galten als schwacher Trost, als Länder, die ihnen so fremd vorkamen und deren Sprachen sie nicht beherrschten, Länder, die bedeuteten, dass sie ein ganzes Leben betrauern mussten, dass sie sich bereits ausgemalt und ersehnt hatten …“. Eindrückliche Sätze, die es uns möglich machen, uns in die damalige Seelenlage der boat people zu versetzen.
Sie werden nach England geschickt, wo die Regierung Thatcher alles andere als erfreut über ihre Ankunft ist. Und wo, am 23. Oktober 2019, in Grays, Essex neununddreissig Vietnamesen tot in einem Lkw aufgefunden werden.
Anh, zusammen mit ihrem Mann Tom, macht ihren Weg; für ihre Brüder hätte sie sich mehr gewollt. „Ihre Kinder wussten, wo Anh herkam, und sie wussten vom Krieg, aber sie hatte ihnen nicht ihre ganze Geschichte erzählt.“ Sie hat nicht das Bedürfnis, diese Ereignisse noch einmal zu durchleben; sie zieht es vor, ihre Erinnerungen wegzusperren. Doch geht das? Holen sie einen nicht immer wieder ein? Und geben wir sie nicht unbewusst weiter?
Fazit: Ein beeindruckendes Werk des Erinnerns und der Trauer.
PS: Die gescheiten Überlegungen der Übersetzerin Maria Hummitzsch zum Begriff „Flüchtling“ am Buchende sollten nicht überlesen werden.
Cecile Pin
Wandering Souls
Atlantik, Hamburg 2023
Sargans, am 21. Mai 2023
Abdulrazak Gurnah, geboren 1948 im Sultanat Sansibar, Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur der University of Kent, lebt in Canterbury. 2021 wurde er mit dem Literaturpreis ausgezeichnet. Meine Skepsis bzw. Voreingenommenheit– Uni-Professoren, die gut schreiben, sind selten; der Nobelpreis, wie Preise generell, eine Auszeichnung für erwiesene Harmlosigkeit – verfliegt schon während der ersten Seiten, denn die Bilder, die Gurnahs Worte in mein Gehirn zaubern, sind schlicht magisch. Woran das liegt? Am Ton, am Rhythmus, sowie an vielem, das ich nicht nicht zu benennen wüsste. Und natürlich auch daran, dass ich dafür empfänglich bin.
Abdulrazak Gurnah ist ein subtiler Beobachter menschlichen Verhaltens. „Hassanali hatte nicht damit gerechnet, dass die Menge draussen warten würde. Er verscheuchte sie mit einem Winken, das sich auf mehrfache Weise deuten liess, sodass keiner Anstoss nehmen konnte, und schloss und verriegelte die Tür.“ Wunderbar gekonnt schildert er, was der Kapitalismus von uns Menschen verlangt. „Er war Krämer, ein Beruf, der es zwingend verlangte, die Kunden zu überlisten, sie mehr bezahlen zu lassen, als sie gerne gezahlt hätten, ihnen weniger zu geben, als sie gerne bekommen hätten. Und er musste es unauffällig tun, nicht auf unverfrorene oder aggressive Weise.“
Unverfroren oder gar aggressiv ist auch des Autors Art nicht, den Kolonialismus bzw. die Kolonialisten zu beschreiben. In Worte zu fassen, was beobachtbar war/ist, genügt. Die damals vorherrschende englische Meinung war, dass die Afrikaner der Bevormundung bedurften. „Sie können über Verantwortung reden, so viel sie wollen, aber wenn Sie Wohlstand und Ordnung in Afrika haben wollen, brauchen Sie eine europäische Besiedlung. Dann können wir aus diesem Kontinent ein zweites Amerika machen.“ Nicht alle Engländer teilten diese Auffassung – sie galten (und gelten) als Idealisten.
Die Abtrünnigen ist auch ein vielfältig lehrreiches Werk. So erfahre ich unter anderem, „dass keine afrikanische Sprache eine Schrift besass, bis die Missionare gekommen sind.“ Alles wird im Gedächtnis bewahrt und mündlich tradiert. Verblüfft konstatiere ich, dass diese Art der Erinnerung der unseren, einst schriftlich niedergelegt, heute digital verwahrt, weit überlegen ist, denn sobald der Strom einmal weg ist, wird auch unser Gedächtnis wegsein.
Seinen Anfang nimmt dieser Roman in Sansibar, wo Rehana Zakariya und Martin Pearce ein Liebespaar wurden. Wie Abdulrazak Gurnah dies beschreibt, ist auch eine Schilderung unserer Zeit, die dem Unerklärlichen, der Magie, ablehnend gegenüber steht „Wir glauben zu wissen, dass das Wunder eine Lüge ist, und suchen immer nach der versteckten oder verschwiegenen Erklärung. Eher noch als Liebe würden wir Gier und Lust als Motive akzeptieren. Ironische Anspielungen auf unsere Verkommenheit, unsere Gerüche und unsere Ausscheidungen behagen uns eher als Bemerkungen über unser zitterndes Schamgefühl oder unser bebendes Verlangen nach Zuneigung. Nicht einmal Seelen sind uns gestattet, und unser geheimes Inneres ist nur noch eine Stätte voller unbewältigter Emotionen und pochender wunder Stellen.“
Es sind solche Ausführungen, die eindrücklich darlegen, dass unser Drang nach dem rationalen Verstehen des Lebens, unser Bemühen um Erklärungen, unser Kampf gegen Tabus, so recht eigentlich nur neue Tabus hervorgebracht hat – eines davon: dass es Wunder nicht geben darf – , die mir die Lektüre dieses Werkes besonders wertvoll machen.
Teil zwei von Die Abtrünnigen spielt in den späten Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, „als die Welt wie zu allen Zeiten voller Ironien war und fast ganz Afrika auf die eine oder andere Weise von Europäern beherrscht wurde: direkt, indirekt, mit roher Gewalt oder brutaler Diplomatie, wenn das nicht zu unlogisch klingt.“ Ganz im Gegenteil, denkt es so in mir – die Diplomatie, so lernt man unter anderem, ist eben nicht die feingeistige Kunst, wie man uns beigebracht hat.
Die Geschwister Amin, Rashid und Farida wachsen in dieser Zeit auf, als noch niemand ahnte, dass die Unabhängigkeit so nahe war. Farida wird Schneiderin, Amin studiert an der Pädagogischen Hochschule, Rashid will weg und bereitet sich auf ein Studium in England vor. Der 20jährige Amin verliebt sich in die schöne, geschiedene Jamila; sie müssen ihre Beziehung geheim halten, ihre Entdeckung ist jedoch nicht zu vermeiden.
Was das Erzählen von Abdulrazak Gurnah mir teuer macht, ist seine feine Wahrnehmung. „Sie blickte kurz in seine Richtung und winkte ihm zu, ohne ein Wort zu sagen, und aus irgendeinem Grund wirkte das intimer, als wenn sie gesprochen hätte.“ Oder: „Zu dieser Tageszeit besuchten die Frauen einander gewöhnlich und widmeten sich den Dingen, die als Frauenangelegenheiten galten und dafür sorgten, dass das Getriebe des Lebens reibungslos lief.“ Ein kluger, ja, ein weiser Mann, der solches schreibt.
Teil drei dieses Romans handelt hauptsächlich von Rashids Studium in England. In den Einführungsseminaren des British Council wird ihm die Etikette für Einladungen in ein englisches Haus beigebracht. „Es dauerte einige Jahre, bis ich von diesen Anweisungen Gebrauch machen konnte, denn die Einladungen liessen auf sich warten.“ Die Wissenschaft, die er vor allen anderen lernt, ist die „Wissenschaft vom Gehorchen.“ Abdulrazak Gurnah geht mit der europäischen Zivilisation wesentlich zivilisierter um als die europäischen Kolonisatoren mit der afrikanischen.
Abdulrazak Gurnah
Die Abtrünnigen
Penguin Verlag, München 2023
Santa Cruz do Sul, Brasilien, am 4. Januar 2021
Der englische Titel dieses Buches heisst „Ways of Being“ und erinnert mich an John Bergers „Ways of Seeing“, ein Werk, dem ich wesentliche Einsichten in Sachen Wahrnehmung zu verdanken habe. Die unfassbare Vielfalt des Seins handelt ebenso von der Wahrnehmung, auch wenn der Untertitel Jenseits menschlicher Intelligenz natürlich nicht halten kann, was er verspricht, denn die Vorstellungswelt des Menschen ist naturgemäss begrenzt durch seine menschliche Intelligenz – der Mensch kann sich nur vorstellen, was ein Mensch sich vorstellen kann.
Allerdings merkt man dann relativ schnell, dass James Bridle mit ‚menschlicher Intelligenz‘ offenbar unsere gängige Art des Denkens versteht und es ihm darum zu tun ist, darüber hinauszugehen bzw. eine andere Art des Denkens und der Wahrnehmung zu propagieren. Neue Beziehungen zu nicht-menschlichen Intelligenzen herzustellen, das ist sein Thema. Uns nicht von anderen Lebensformen abzugrenzen, sondern unsere Gemeinsamkeiten erkennen, die auch darin bestehen, zu akzeptieren, dass nichts separiert existiert, sondern immer in Abhängigkeit von anderem. „Wir müssen lernen, mit der Welt zu leben, statt sie beherrschen zu wollen.“
Ein wesentlicher Teil dieses Buches befasst sich mit dem ökologischen Denken. Ökologie, so Bridle, beschreibe eher eine Aufgabenstellung und eine Haltung in Sachen Forschung als ein Fachgebiet. Und dies meint: „dass das, was zählt, in Beziehungen und nicht in Dingen liegt – dass es zwischen uns und nicht in uns liegt.“
Der amerikanische Ökologe und Philosoph David Abram hat den Begriff der ‚mehr-als-menschlichen-Welt‘ geprägt: Was wir als Dinge bezeichnen, sind so recht eigentlich Wesen, die aktiv an unserem kollektiven Werden teilnehmen. „Die Welt besteht aus Subjekten, nicht aus Objekten. Alles ist in Wirklichkeit jeder und jede, und alle diese Lebewesen haben ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten, Sichtweisen und Lebensformen.“
So recht eigentlich beschreibt dies mein eigenes Weltempfinden treffend, in dem auch sogenannt Unbeseeltes als beseelt erlebt werden kann. Können Bäume oder Steine Empfindungen haben? Als Kind war mir dies selbstverständlich. Und daran, dass Tiere Gefühle haben, zweifelt heutzutage wohl kaum jemand, obwohl Juristen noch vor wenigen Jahren Tiere als Sachen bezeichnet haben.
„Die volle Anerkennung der Tatsache, dass nicht-menschliche Pflanzen, Tiere und andere Existenzen ihre eigenen Welten haben, die sich grundlegend von denen der Menschen unterscheiden und die wir nicht (er)kennen können, bedeutet, dass wir den menschlichen Exzeptionalismus und die menschliche Vorherrschaft allmählich beenden. Der Mensch ist nicht der Mittelpunkt des Universums.“ So wahr dies ist, so selten sind wir imstande, dies auch so zu erleben. Du machst wohl Witze, sagte bekanntlich Marcie, als ihr Charlie Brown klar zu machen versuchte, dass sich die Welt nicht um sie drehe.
Er stelle sich Intelligenz als etwas Nützliches, Produktives vor, sagte James Bridle in einem Fernsehinterview. In diesem Sinne sind Pflanzen zweifellos intelligent, das kann man heutzutage auch wissenschaftlich nachweisen. Doch auch wenn man dies nicht könnte: Manches erschliesst sich uns auch durch geduldiges Beobachten. Oder durch unsere Haltung/Einstellung: Wer bereit ist, sich von der anthropozentrischen Welt zu verabschieden, wird sich damit in die Lage versetzen, die Welt, das Leben und das Universum neu zu sehen.
James Bridle, ein Fan von Computern und Netzwerken, der sich jedoch an deren profitgetriebener und menschenfeindlicher Verwendung stört, plädiert unter anderem dafür, die Macht des Zufalls zu begrüssen. Dass wir das, was uns zu-fällt so recht eigentlich willkommen heissen sollten, scheint mir logisch, nur funktioniert der Mensch nun einmal ganz anders: er fürchtet den Zufall, da dieser nicht berechenbar ist. Nur eben: „Die Zufälligkeit in Technik, Wissenschaft und Ökologie zeigt uns, dass es für diese Verflechtung eine solide und rationale Grundlage gibt: Diese Begegnungen werden durch den Zufall vermittelt, und dadurch produzieren sie Wissen, verteilen sie Macht und bringen uns alle auf eine neue Ebene, Wir werden nur dann zu dem, was wir noch werden könnten – weiser, gleicher, gerechter und lebendiger – , wenn wir gemeinsam werden.“
James Bridle
Die unfassbare Vielfalt des Seins
Jenseits menschlicher Intelligenz
C.H. Beck, München 2023
Am Wegrand, Sargans, am 19. Mai 2023
November 1941, Hawaii. Ein junger weisser Mann wird übelst zugerichtet an einem Fleischerhaken aufgehängt gefunden. Dem jungen Detective Joe McGrady, mit einem dieser typisch nordamerikanischen Kinn-Gesichter („McGrady hatte eines dieser Gesichter. Kantig und irgendwie unfertig, als wäre der Meissel seines Bildhauers am zu harten Stein zerbrochen.“), wird aufgetragen, sich des Falles anzunehmen. Auf dem Rückweg vom Tatort wird er angegriffen, er erschiesst den Mann. Zusammen mit einem Kollegen findet er eine weitere Leiche, eine Orientalin. Ein brutaler Auftakt in brutalen Zeiten, als in Nordamerika der Rassismus gegenüber Asiaten in voller Blüte stand.
Ich bin sofort drin, in diesem Thriller, glaube die geschilderten Orte und Personen nicht nur zu sehen, sondern auch zu riechen. Mir sind Hawaii, Manila, Hongkong und Tokio nicht unbekannt, vielleicht hat es auch damit zu tun, doch letztlich ist mir schleierhaft, wie der Autor dieses Gefühl, ich sei vor Ort und mit dabei, auszulösen versteht; es ist irgendwie magisch.
Eindrücklich ist auch, wie er die damaligen Flugreisen schildert, die mit den heutigen, wo viele das Flugzeug schon fast wie den Bus nehmen, nicht vergleichbar sind und an Abenteuer gemahnen, allerdings nicht in jeder Hinsicht. „Er sass weder für sich allein, noch hatte er einen Schlafplatz. Stattdessen verbrachte er fünf Stunden auf einem Fensterplatz mit Aussicht auf den Ozean.“
Thriller dienen ja auch dazu, ihren Autoren die Möglichkeit zu geben, ihren Frust über die Welt loszuwerden. Vorgesetzte werden zumeist als miesepetrig und überfordert dargestellt. So auch McGradys Chef Beamer. „Beamer neigte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen. Vielleicht besass McGrady irgendwo zwischen seinen Ohren tatsächlich ein Gehirn. Hätte Beamer selbst eins gehabt, wäre ihm das schon vor sechs Monaten aufgefallen.“
Da ihr Chef (wie alle Chefs weltweit) vor allem damit beschäftigt ist, seinen Freunden zu Gefallen zu sein, beschliessen Detective Joe McGrady und sein Partner Fred Ball fortan die Dinge selber an die Hand zu nehmen.
Der ermordete junge Mann entpuppt sich als Neffe von Admiral Kimmel, der McGrady vertraut. Es gehört zu den Stärken dieses Thrillers, dass er überzeugend Beziehungsgefühle, also Zu- und Abneigungen wie auch Gleichgültigkeit, zu vermitteln weiss. „Es war verblüffend, welche Kleinigkeiten die Zeit überdauern konnten, während anderes sich einfach in Luft auflöste.“
McGrady wird nach Hongkong geschickt, das kurz darauf von den Japanern eingenommen wird. Zusammen mit anderen Gefangenen wird er nach Japan überstellt, wo ihn ein japanischer Regierungsangestellter bei sich aufnimmt – seine Nichte ist die auf Hawaii ermordete junge Orientalin.
Autor James Kestrel schildert diese Ereignisse plausibel; spannend ist aucht, wie er das Geschehen in die damalige politische Lage einbindet – der japanische Angriff auf Pearl Harbor. Die amerikanische Bombardierung Japans. „Kein Bombenregen, sondern ein Wolkenbruch. Sie fielen in so dichtem Abstand, dass eine Explosion begann, während die vorherige noch zu hören war. Ein fortwährendes, immer lauter werdendes Donnern (…) Dreihundertvierunddreissig Besatzungen. Dreihundertvierunddreissig Flugzeuge. Zusammengenommen waren sie mit gut anderthalb Millionen Kilo Napalm beladen.“
Fünf Winter handelt auch von der Liebe, von Loyalität und gründet auf einer Philosophie, die Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden weiss. „Es gab so vieles, was er ihr sagen wollte. Aber er fing mit dem Wichtigsten an. Sie wussten dass man mit den Grundprinzipien begann. Dass man ein Fundament schuf, auf dem man dann etwas Beständiges aufbaute.“
Fazit: Eine packende, heftige und bewegende Zeitreise. Fünf Winter vermittelt eine einzigartige Präsenz des Geschehens – man fühlt sich in die 1940er Jahre zurück transportiert, glaubt sich vor Ort und mit dabei.
James Kestrel
Fünf Winter
Suhrkamp, Berlin 2023
Sargans, am 13. Mai 2023
Mit 365 Freud-Zitaten durchs Jahr, kommentiert von 280 Autoren, Frauen und Männen, die jeweils ihre eigene Lesart vorstellen. Dieses Werk beginnt mit dem ersten Satz von Freuds erster wissenschaftlicher Arbeit, die von den Geschlechtsteilen des Aals handelt, und deren Schussfolgerung von Herausgeber Kai Rugenstein als eigentliche Tugend des späteren Sexualforschers Freud bezeichnet wird: „Das Rätselhafte, Unauffîndbare und Unverständliche auszuhalten und nicht durch vermeintlich sichere Gewissheiten zum Verschwinden zu bringen.“
Ein höchst gelungener Einstieg, der kurz darauf von ebenso ansprechenden Ausführungen von Eva Illouz fortgeführt wird, die sich zu Freuds Auffassung, dass das Leben ohne Linderungsmittel nur schwer zu ertragen sei, äussert und meint, dass er über die Ideologie der positiven Psychologie und der positiven Emotionen entsetzt gewesen wäre. „Er verortete das Problem des Leidens in unseren Seelen, wusste aber zugleich, dass das Leben, also die objektive Welt, stets zur Stelle ist, um uns zu enttäuschen, zu betrügen und zu verletzen (…) Freud tröstete nicht. Er forderte einen erbitterten Kampf gegen unsere Dämonen und Selbsttäuschungen.“
Für jemanden wie mich, der mit Freud nur ganz oberflächlich bekannt ist, ist zugleich verblüffend und bereichernd, wie lebenswesentlich seine Einsichten sind. Etwa über das Unbewusste: „Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Aussenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Aussenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.“ Ach, wie wünschte man sich doch, solche nüchterne Bescheidenheit wäre den zumeist von Wunschdenken und monetären Interessen geprägten modernen Therapeuten geläufig.
Ganz unterschiedliche Autoren kommentieren eine beeindruckende Breite von Themen. Besonders erwärmte ich mich für die Ausführungen von Nuar Alsadir zur freien Assoziation, Marina D’Angelos „Reise als ungekrönter König“, worin sie auch Freuds Phantasie erwähnt, „sich der Ausgrabungstätigkeit und der Archäologie zu widmen“ sowie die Selbstauskunft Michael Krügers anhand von Freuds Bekenntnis „Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst.“
Es versteht sich: Über jemand anderen zu schreiben, bedeutet auch immer über sich selbst Auskunft zu gehen. Wie könnte es auch anders sein? Schliesslich kennt man nur sich selbst – und überdies höchst unzureichend. Wenn also Peter von Matt Freuds Bemerkung über den Krieg („unser Triebleben in seiner Nacktheit“) als schwierig begreift, beschreibt er damit eher sein Verhältnis zu diesem Satz und weniger den Satz, der überhaut nicht schwierig ist, sondern ausgesprochen deutlich benennt, was der Krieg blosstellt. Svenja Flasspöhler äussert sich dagegen erfrischend deutlich: „Der Krieg gibt diesen Bedürfnissen (‚die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind‘) Raum – und zwar in ihrer ganzen, nackten Brutalität.“
Obwohl viele Zitate in diesem Buch so recht eigentlich keiner Kommentierung bedürfen – etwa: „Die Absicht, dass der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht vorgesehen.“; oder: „Das Gehörthaben und das Erlebthaben sind zwei nach ihrer psychologischen Natur ganz verschiedene Dinge, auch wenn sie den nämlichen Inhalt haben.“ – , liest man die Überlegungen dazu trotzdem mit Gewinn. So antwortet zum Beispiel Nikolas Heim auf die Frage, wie emotionale Einsicht zu erlangen sei. „Indem der Therapeut sich anders verhält als der Patient es unbewusst erwartet, wird so ein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten bzw, eine emotional-korrigierende Erfahrung ermöglicht.“
365 x Freud bietet viel Erhellendes. So befindet etwa Otto F. Kernberg unter Bezugnahme auf Freuds ‚Unbehagen in der Kultur‘: „Unsere Wertsysteme sind eine schwache Verteidigung gegen die menschliche Aggression.“ Und Olivia Laing, die sich mit ‚Homo hominis lupus‘ auseinandersetzt, führt aus, dass es Freud nicht gegeben war. „sich die vorgefundene Realität irgendwie zu versüssen.“ Und Jonathan Franzen weist darauf hin, dass Freud gezeigt hat, „dass es für die ‚conditio humana‘ kein Heilmittel gibt.“ Zu dieser gehört übrigens, „dass wir grundsätzlich weniger wissen als wir zu wissen glauben.“
365 x Freud ist auch ein ernüchterndes Werk – und Ernüchterung befreit. So riet uns Freud, laut Joel Whitebook, „unsere grundsätzliche Bedeutungslosigkeit zu akzeptieren, unseren Wunsch nach Trost aufzugeben und uns der Ananke hinzugeben, der harten Realität. Mehr noch: Er verbindet mit alldem auch die kontraintuitive Behauptung, dass die Übernahme dieser trostlosen Perspektive nicht nur emanzipatorisch sei, sondern auch dem Wohlergehen der Menschen diene.“
Fazit: Anregend, aufschlussreich und wesentlich.
Tobias Nolte / Kai Rugenstein (Hrsg.)
365 x Freud
Ein Lesebuch für jeden Tag
Klett-Cotta, Stuttgart 2022