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Erste Schritte

Stephen Amidon: Das Ende von Eden

Ein ungemein packender Einstieg, ein rasanter Erzählstil voller Witz, der sich auch so toller Ausdrücke bedient wie „Armleuchter“, und Schilderungen enthält, die mich laut heraus lachen lassen. „Sein Blick war fest auf die Cops gerichtet, seine Stirn so stark gerunzelt, dass es aussah, als befände er sich im Anfangsstadiums eines Schlaganfalls. Er sagte kein Wort, während er auf sie zukam, als ob er bereits den Rat seines Anwalts befolgte.“

Eden, die Tochter der alleinerziehenden Aussenseiterin Danielle Perry, ist tot. Die Hauptverdächtigen sind drei Teenager, die in jener Nacht zusammen mit ihr gefeiert haben. Die Polizei nimmt Ermittlungen auf; die Eltern der drei Teenies tun, was Eltern eben so tun – sie stellen sich vor ihre Kinder. Und schützen sich damit auch selber, denn sie auch sie haben einiges zu verbergen.

Ein Mord in Emerson, einem reichen Vorort in Neuengland, ist zwar aussergewöhnlich, doch die Gerüchte und die Spekulationen auf Twitter ist so in etwa das, was heutzutage wohl überall auf der Welt gängig ist. „Das rief einem in Erinnerung, dass auch sie hier trotz Alarmanlagen, der Bewaffnung und der Polizeikräfte, die besser ausgerüstet waren als die Armeen so mancher Drittweltländer, verwundbar waren.“

Wie Autor Stephen Amidon, in Chicago geboren, viele Jahre als Journalist in London tätig, heute zwischen Massachusetts und Turin pendelnd, diese Eltern, ihr Verhältnis zueinander und zu ihren Kindern schildert, ist ungemein fesselnd und macht überzeugend deutlich, dass nichts so ist, wie es scheint, und nichts so sein darf, wie es ist. Dazu kommt, dass dieser Kriminalroman mit überaus witzigen Charakterisierungen gespickt ist. „Er klang nicht besorgt, doch das tat er ja nie. Oliver war der Typ Mann, dessen Herz in einer Krise eher noch langsamer schlug.“

Überaus gekonnt wird hier geschildert, was für eine schwierige, vertrackte, ja so recht eigentlich unlösbare Aufgabe die Erziehung von Jugendlichen ist. Was ist zumutbar, was die richtige Strategie, was ein gesundes Mass? Es spricht auch für diesen Roman, dass er nicht mit einfachen Antworten aufwartet, sondern die Prozesse so komplex und verwickelt schildert wie sie nun mal sind.

So spannend Das Ende von Eden erzählt wird, es ist weit mehr als ein Kriminalroman. Ja, so recht eigentlich ist es ein Porträt der Alltagsschwierigkeiten von materiell gut gestellten Leuten, ihren Kompromissen und Lügen, ihrer Heimlichtuerei, die sich als Rücksichtnahme maskiert, ihrer tendenziell unzufriedenen Doppelleben. Apropos materiell gut gestellt: hervorragend, wie der Autor, nachdem einer der Protagonisten gerade, ohne zu bezahlen. den Supermarkt verlässt, unsere gesellschaftlichen Zuschreibungen ad absurdum führt. „Unvorstellbar, dass er einen Ladendiebstahl begehen könnte. Er war ein weisser Mann mit einem Hundertdollarhaarschnitt und einem italienischen Zweitausenddollaranzug, der mit erhobenem Kinn und durchgedrücktem Rückgrat dahinschritt. Leute wie er begingen keinen Ladendiebstahl.“

Und auch dies zeigt Das Ende von Eden differenziert und eindringlich auf: Dass Menschen, die es zu Ansehen und Wohlstand gebracht haben, nie etwas einfach so tun, sondern immer etwas dafür haben wollen. Als ein Klient sich bei seinem Anwalt für das Handy bedankt, das ihm dieser zur Verfügung stellt, erwidert dieser: „Danken Sie mir nicht zu sehr. Es wird auf Ihrer Rechnung stehen.“ Und auch die Justiz, diese theatralische Inszenierung von Gerechtigkeit, kriegt ihr Fett ab. Als der vermeintliche Mörder ihrer Tochter angeklagt wird, denkt die Mutter: „…trotz der Schmierentheateratmosphäre besänftigte diese Vorstellung ihre Zweifel. Es war eine Show, aber eine professionelle, gut finanziert und reibungslos im Ablauf, für ihr Kind inszeniert.“

Einer der Protagonisten ist Alkoholiker. „Eine von Gabis Therapeutinnen hatte einmal gesagt, dass alle Süchtigen am Ende zu der gleichen Person wurden, egal wie ihre Vorgeschichte war.“ Besser kann man die Vorstellung, Alkohol würde die wahre Persönlichkeit hervorbringen, kaum kontern. Und auch wenn man nicht viel von Therapeuten hält, so sind sie zumeist, „gute Leute, besonders verglichen mit den Scharen von eklatanten Arschlöchern, die in diesem Land unterwegs waren.“

Stephen Amidon ist mit Das Ende von Eden eine spannungsgeladene Geschichte darüber gelungen, was der Selbsterhaltungstrieb, der sich nicht um Moral kümmert, mit den Menschen alles macht, Dass dabei auch eine überzeugende Charakterstudie sogenannt guter Kreise herausgekommen ist, macht dieses Buch zu einem eigentlichen Meisterwerk.

Stephen Amidon
Das Ende von Eden
Droemer, München 2023

Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus

Tanja Maljartschuk, 1983 in der Ukraine geboren, 2011 nach Wien emigriert, „ist inzwischen neben einer der wichtigsten ukrainischen Autorinnen auch zur bedeutenden Schriftstellerin deutscher Sprache geworden. Sie wurde u.a. mit dem Bachmann-Preis 2018 und dem Usedomer Literaturpreis 2022 für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet.“ Ich nehme das einigermassen verwundert zur Kenntnis. Einerseits, weil diese Zuschreibungen im Superlativ für mich nichts weiter als (nicht nachvollziehbare) Behauptungen sind; andererseits, weil eine Frau mit gerade einmal 39 Jahren einen Literaturpreis für ihr Gesamtwerk erhält. Schon ziemlich abgehoben, diese literarische Welt.

Der erste Essay, 2020 im Radio Ö1 des ORF gesendet, heisst „Erinnerungen an das Sinnliche“ und beginnt so: „Deine Heimat ist dort, wo deine Toten liegen. Ein schöner Satz, leider nicht von mir. Ich würde sagen: Deine Heimat ist dort, woher deine Traumata stammen.“ Etwas melodramatisch, finde ich. Ich selber kann mit Traumata nicht dienen, habe ich also keine Heimat? Für jemanden wie mich, der ausser Büchern von Andrej Kurkow kaum etwas über die Ukraine weiss, ist dies ein aufschlussreicher Text, der mich staunen macht, unter anderem darüber, dass sich in der Ukraine die grösste psychiatrische Klinik Europas, genannt Pawliwka, befindet.

Zum Schmunzeln einladend dann der Einstieg in den zweiten Essay aus dem Jahre 2014: „Man sagt, der Mensch kann nur das verstehen, was er selbst erlebt hat. Das glaube ich gern. Ich verstehe sehr viel nicht, denn ich habe in meinem Leben noch zu wenig erlebt.“ Dann berichtet sie von ihren Panikattacken und man weiss, dass sie Aspekte des Lebens kennengelernt hat, von denen viele verschont bleiben.

Wiktor Janukowytsch war bereits ein Jahr Präsident, als Tanja Maljartschuk mit ihrem Mann, einem Österreicher, nach Wien auswanderte. Janukowitschs Wahl wühlte sie auf. „Das Verbrechertum hatte seinen Präsidenten bekommen und Legitimität erlangt, der russische Knastgesang wurde zur neuen ukrainischen Hymne (…) Das ‚Ukrainische‘ starb, und das spürte nicht nur ich.“ Ihre bewegende, subjektive Sicht des Landes (dass sie nicht die einzige ist, die die Dinge so sieht, versteht sich von selbst) macht es möglich, sich die dortige Realität nicht nur vorzustellen, sondern nachzuempfinden.

„Ein Brief an den Bruder“ heisst ein weiterer Essay von 2014. Mit Bruder ist Russland gemeint, das gefragt wird: „Russland, du bist ein grosses und reiches Land. Sage mir und bitte, warum und wozu brauchst du jetzt auch noch mein Land und mein Geld?“ Besser kann man ja so recht eigentlich nicht fragen, denkt es so in mir, doch dann wird diese Frage noch getoppt: „Sind etwa nicht diejenigen für dich Faschisten, die nicht Russen sein wollen? Alle, die nicht deiner Meinung sind?“

Tanja Maljartschuk bietet mit diesen Essays nicht nur aufschlussreiche Ukraine-Aufklärung, sondern berichtet auch von Russland und den Russen. So erfährt man etwa, dass die Ukrainer erst 2014 damit begannen, Denkmäler sowjetischer Politiker, „als ob sie nicht Mörder, sondern nationale Helden darstellten“, zu zerstören. Oder dass auf Befehl Stalins in der Ukraine eine Hungersnot organisiert worden war, bei der Millionen von Menschen zu Tode kamen. Oder dass die Gefangenen in Russland in Lagern gefoltert werden. Sicher, man hat davon gehört, doch man muss sich dies vor Augen führen – und genau das tut dieses Buch.

Es gehört zu den Rätseln unserer Existenz auf dem Planeten Erde, dass ein Land oft erst in unseren Fokus gerät, wenn sich dort eine Tragödie ereignet. Das ist für die meisten auch im Falle der Ukraine so, von der die Autorin schreibt, das war 2015, sie sei noch immer völlig unbekannt geblieben. „Sie wartet jetzt, erzählt zu werden. Leider tritt in ihren Geschichten immer nur der Tod als Hauptfigur auf.“ Wie man mit dieser Hauptfigur auch umgehen kann, zeigt Tanja Maljartschuk unter anderem mit ihrem, im wörtlichen Sinne aussergewöhnlichen, Text zum Begräbnis ihrer Grossmutter.

Es ist das Nebeneinander von Persönlichem, Aktuellem und Vergangenem, das dieses Werk auszeichnet. Darüber hinaus mindert es meine Ignoranz in Sachen Ukraine und Russland. Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus ist aufwühlend, clever und unterhaltsam; als Einstieg sei „Die Heimat im Rucksack“ empfohlen – ich habe Tränen gelacht.

Tanja Maljartschuk
Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus
Essays
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022

Thomas Metzinger: Bewusstseinskultur

„Wir müssen uns ehrlich machen.“ So beginnt dieses Buch. Wir sind also nicht ehrlich, schliesse ich daraus, sondern müssen es erst noch werden. Das verlangt eine Anstrengung, eine praktische, keine, die sich auf Kopfeinsichten beschränkt. Angesichts der menschlichen Neigung zum Selbstbetrug ist das kein geringes Unterfangen.

„Seit einem halben Jahrhundert wissen wir, dass das alte, von Gier, Neid und rücksichtslosem Wettbewerb angetriebene Modell des kontinuierlichen Wachstums uns in die globale Katastrophe führt – vor allem aufgrund der engen Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Kohlendioxidemissionen.“ Und: „Wir wussten sehr genau, was kommen würde, waren aber nicht in der Lage, die alten Werte hinter uns zu lassen und tatsächlich funktionierende alternative Lebensformen zu schaffen.“

Woran liegt das? Daran, dass Wissen selten hilft. Professor Metzinger, „einer der meistzitierten deutschen Gegenwartsphilosophen“ (schon eigenartig, womit man heutzutage alles hausieren geht), sieht das ganz anders: er plädiert für eine realistische Sichtweise, die sich von den Zwängen des Zweckoptimismus und des Zweckpessimismus befreit.

Spannend und anregend sind insbesondere seine Ausführungen zur intellektuellen Redlichkeit und zur Achtsamkeit, die viel gemein haben. „Es ist eine bestimmte Qualität des inneren Hinschauens, die beide verbindet.“ Selten waren mir überdies die Gemeinsamkeiten von Meditation und Wissenschaft deutlicher, denn beide sind „Formen des epistemischen Handelns, des Handelns um der Erkenntnis willen.“ Auch erachtet es der Autor – zu Recht – für nötig, ein anderes, neues Selbstbild zu entwickeln, das von Würde, Mitgefühl und Selbstmitgefühl geprägt ist.

Was Bewusstseinskultur unter anderem auszeichnet, ist die klare Benennung von Sachverhalten. „Es gibt eindeutig so etwas wie ‚die Feinde der Menschheit’“, notiert der Autor und führt sie dann auch konkret auf. Auch scheut er sich nicht vor Prophezeiungen, was bei Akademikern mit ihren Sowohl-als-Auch und Zwar-Aber eine Rarität ist. „Wir werden eine starke Zunahme des Öko-Terrorismus sowie das Entstehen von immer neuen Verschwörungstheorien, von Populismus und neuen religiösen Bewegungen beobachten; wir werden grosse Migrationsbewegungen und natürlich auch militärische Konflikte rund um den Globus erleben. Die Jungen werden die Alten verachten. Für die Feinde der Menschheit wird es schwierig werden.“

Es gehe darum, so der Autor, „unsere Aufmerksamkeit endlich auf die Tiefenstruktur unseres eigenen Bewusstseins zu richten.“ So richtig und notwendig dies auch ist, einigermassen befremdlich muten dann Aussagen an wie, „dass wir uns bald selbst nicht mehr als rationale Wesen ernst nehmen können, weil die grosse Mehrheit von uns vorsätzlich Fakten ignoriert und auf politischer Ebene einen grandiosen kollektiven Selbstbetrug organisiert hat.“ Bisher glaubte ich, nur Juristen und Ökonomen würden der Wahnvorstellung huldigen, beim Menschen handle es sich um ein rationales Wesen!

So recht eigentlich geht es in dieser verdienstvollen Schrift um Werte wie Anstand, Respekt, Integrität, Würde etc., um Werte also, die häufig in Politiker- und Sonntagsreden beschworen, jedoch nicht gelebt werden. Autor Thomas Metzinger legt überzeugend dar, dass diese Werte zuerst einmal erfahren und verinnerlicht werden müssen, bevor sie sich auch praktisch auswirken können.

Um die Welt anders als gewohnt zu erleben, muss man sie auf ungewohnte Art erfahren, sei es durch Meditation, sei es durch pharmakologische Möglichkeiten, um zwei Beispiele zu nennen. Beides hat Thomas Metzinger selber erlebt. Nicht nur möchte er diese Experimente, die mehr als drei Jahrzehnte zurückliegen, nicht missen, er ist für diese Bewusstseinserfahrung dankbar.

Bewusstseinskultur geht jedoch über den Einzelnen hinaus. „Was wirklich zählt, ist der Aufbau eines dynamischen sozialen Netzwerks, dem es gelingt, einen neuen kulturellen Kontext zu schaffen und die Erzeugung einer neuen soziophänomenologischen Nische tatsächlich in Gang zu setzen.“

Bewusstseinskultur ist ein gut zu lesendes, vielfältig anregendes Werk, das sich an hilfreichen Grundwerten orientiert, viele praktische Vorschläge macht, sich bedauerlicherweise jedoch auch Fragen annimmt wie „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ bzw. „Existiert Gott?“, Fragen also, auf die – das weiss sogar ein Nicht-Philosoph – auch Professor Metzinger, der „weltweit als einer der profiliertesten Philosophen des Geistes und der Kognitionswissenschaft“ gilt (so der Klappentext), keine Antwort wissen kann.

Thomas Metzinger
Bewusstseinskultur
Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise
Berlin Verlag, Berlin/München 2023

Funny van Dannen: Angst vor Gott

Der englische König begegne der Schweiz mit sehr viel Sympathie, lautete letzthin eine der Schlagzeilen des Boulevardblattes Blick, die den Schweizer Botschafter in London zitierte. Womit wieder einmal demonstriert wäre, wie unglaublich kompetent die Medien ihre Informationsaufgabe nehmen und wie überflüssig der Schweizer Botschafter in London ist. Natürlich meine ich das nicht im Ernst; natürlich weiss ich um die Bedeutung der Diplomatie und des royalen Pomps, der die britische Arroganz maskiert.

Als ich dann später am Tag durch die Strassen von Bukarest spaziere, komme ich an einer Plakatwand vorbei, wo Jordan Peterson neben Al Bano hängt, und in mir denkt es wieder einmal: Schon irre, dieses beliebige Nebeneinander von Allem und Jedem – wie soll man bloss mit dieser gänzlich absurden sozialen Welt klarkommen? So wie es Funny van Dannen in Angst vor Gott tut, einer Zusammenstellung von Geschichten und Gedichten, die mich schon gleich zu Beginn laut heraus lachen lässt.

„Die Flüchtlinge werden immer frecher, sagt Elvira Schmitz zu ihrem Mann, dem pensionierten Kämmerer. Jetzt wollen die Ukrainer vor der Tagesschau ihre Nationalhymne hören. Ach, Quatsch! sagt Herbert. Du bist zu oft online. Lass mich jetzt bitte Fussball gucken. Das nennst du Fussball? lacht Elvira, Diese müden Millionäre verarschen dich und die 50.000 im Stadion nach Strich und Faden …“

Besser und prägnanter geht eigentlich kaum, denkt es so in mir, doch dann, bei der zweiten Geschichte, wird es so recht eigentlich fast noch besser.

„Dort, wo die meisten Schweine getötet werden, sind die Menschen besonders ernst und verschlossen, sagt Adele zu ihren Mann Hans-Horst beim Abendbrot. Wo hast du das denn wieder her? fragt der Mann, obwohl er es gar nicht wissen will. Das willst du gar nicht wissen, sagt Adele. Aber es ist glaubwürdig, glaub‘ mir. Ich glaube gar nichts mehr, sagt ihr Mann. Alle haben ihre Interessen und dementsprechend gestalten sie die Wahrheiten.“

Angst vor Gott ist überaus witzig, clever und differenziert, ein Sammelsurium realistisch absurder Dialoge, ein Nebeneinander von höherem Schwachsinn und fundamentalen Lebenseinsichten. „Das Leben ist kein Spaghetti-Western! ruft Kurt. Und nenn mich nicht ‚mein Lieber‘. Auch ich bin böse. Ich habe Geld unterschlagen, Steuern hinterzogen und der verfluchte Sexualtrieb verdirbt mir noch die edelsten Gefühle.“

Funny van Dannen, 1958 geboren in Berlin, nimmt in diesem Band Paarungen vor, die nicht nur unmittelbar einleuchten – etwa Donald Duck und Donald Trump; Pu, der Bär, und Vladimir Putin (den er von sich sagen lässt, es sei ein ganz normaler Petersburger Junge gewesen, schüchtern und gewalttätig – , sondern auch Zeugnis eines phantasievollen Umgangs mit der sogenannten Wirklichkeit, ohne den einen das Leben, das soziale, unweigerlich in die Verzweiflung treiben würde. Apropos Phantasie: Jean-Paul Belmondo und Papst Johannes Paul den Zweiten nebeneinander auf ein himmlisches Mäuerchen zu setzen – darauf muss man erst mal kommen!

Darüber hinaus werden in Nebensätzen ganze Lebensläufe erzählt. So erfährt man etwa, dass Egon, obwohl bereits Rentner, seinen richtigen Beruf noch nicht gefunden hat. Und unter dem Titel ‚Wie ich Lyriker wurde‘, liest man: „Du hast doch nichts zu sagen, meinte meine Frau. Willst du denn etwas sagen? Schriftsteller müssen nichts sagen, fand ich und wusste nicht mehr weiter.“

Doch Angst vor Gott ist nicht nur ein höchst unterhaltsames Werk, es enthält auch Sätze, die mir Erkenntnisse vermitteln, die meine Weltsicht entschieden bereichern. Dazu gehört auch dieser: „Wer die Welt nicht schöner machen kann, sollte die Finger von der Kunst lassen.“ Grossartig! Und überzeugender als alle mir bekannten Definitionen von Kunst …

Funny van Dannen
Angst vor Gott
Critica Diabolis 316
Edition Tiamat, Berlin 2023

Byung-Chul Han: Philosophie des Zen-Buddhismus

Seit ich in meinen Jugendjahren Zen-Buddhismus und Psychoanalyse von Fromm, Suzuki und de Martino gelesen habe, begleiten mich Zen-Gedanken – daher mein Interesse an diesem Buch, dessen Titel mich sowohl verwirrt (geht es denn im Zen nicht vor allem um die Praxis?) und anzieht (ich verbinde mit Zen hauptsächlich eine simple und radikale Grundhaltung eines vollkommen anderen als des westlichen In-der-Welt-Seins).

Philosophie des Zen-Buddhismus wolle „die dem Zen-Buddhismus innewohnende Kraft begrifflich entfalten“, so Byung-Chul Han, der natürlich um die Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens weiss, da Zen bekanntlich dem Begrifflichen, ja der Sprache, tendenziell abgeneigt ist. Nur eben: Auch dies lässt sich durch Sprache vermitteln.

„Die vorliegende Studie ist ‚komparatistisch‘ angelegt. Die Philosophie von Platon, Leibniz, Fichte, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger u.a. werden mit den philosophischen Einsichten des Zen-Buddhismus konfrontiert.“ Das ist nicht zuletzt auch deswegen aufschlussreich, weil etwa Heidegger und Nietzsche recht nahe bei Zen-Buddhistischem sind, sich dann  aber eben doch entscheidend davon abheben, da sie sich an Gott bzw. einer Gottesvorstellung orientieren, die der ‚Religion ohne Gott‘, als die Zen auch verstanden wird, fremd ist.

Sehr schön arbeitet Byung-Chul Han heraus, was Zen von so ziemlich allem Anderen unterscheidet: Es geht nicht um Sinn und Zweck. „Das Streben verfehlt gerade den Weg.“ Es geht um Alltägliches. „Der geglückte Tag ist der tiefe All-Tag, der in sich ruht. Es gilt in der Wiederholung des Gewöhnlichen, des Uralten das Ungewöhnliche zu erblicken.“

Während unser Denken vom Unterscheiden geprägt ist, ist Zen das gerade nicht. Im Zen geht nicht um die Differenz, sondern um die freundliche In-Differenz, die Leere. „Es fliesst alles. Die Dinge gehen ineinander über, vermischen sich.“ Und: „Das Feld der Leere ist frei vom Zwang der Identität.“ Das genaue Gegenteil des westlichen Denkens also, in dem das Behaupten der Identität zentral ist.

Man könne sich vorstellen, dass ohne Orientierungspunkte alles bedeutungslos sei, hat Sharon Cameron einmal geschrieben, und dann hinzugefügt, dass wir ohne Orientierungspunkte im Realen seien. Daran fühlte ich mich bei den Ausführungen von Byung-Chul Han häufig erinnert. Ganz anders Leibniz, der sich an der Seele orientierte, deren Grundzug das Begehren sei, der sie am Leben halte. Im Zen dagegen geht es um ein Sein ohne Begehren.

Da nichts fest und alles miteinander verbunden ist, gibt es auch nichts Festes, woran man sich halten könnte. Die dem Dasein gemässe Lebensform wäre demnach das Wandern als Nirgends-Wohnen. Auch das bei sich zu Hause sein, ist nicht möglich. „Er ist vielmehr bei sich selbst zu Gast. Verzichtet wird auf jede Form des Besitzes und des Selbstbesitzes. Weder der Leib noch der Geist sind mein.“

Mein (!) Lesen orientiert sich allein daran, ob ein Text mein (!) Leben bereichert. Philosophie des Zen-Buddhismus tut dies auf vielfältige Art und Weise. Dazu gehört eine Erinnerung an ein Gespräch mit Uniprofessorinnen in Panama-City, die sich über ihre interesselosen Studenten beklagten, während ich, zu meiner eigenen Überraschung (ich bin von der gegenteiligen Auffassung geprägt), ein Plädoyer für die Indifferenz von mir gab. Jetzt lese ich: „Die Freiheit der Losgelöstheit stellt eine singuläre In-Differenz dar. In dieser Gleich-Gültigkeit ist das Herz freundlich gegenüber allem, was kommt und geht.“

Philosophie des Zen-Buddhismus zeigt mir, dass das Denken in Ursache und Wirkung, die Ausrichtung auf Sinn und Zweck, die Behauptung der eigenen Identität, bestenfalls Hilfsmittel sind, um sich auf der Welt zurechtzufinden. Und dass es einen anderen Weg des In-der-Welt-Seins gibt, der keineswegs eine Weltflucht ist. „Der Erleuchtete schweift nicht in einer Wüste des ‚Nichts‘ umher. Er wohnt vielmehr ‚inmitten des Gedränges der befahrenen Strasse‘.“ Allerdings mit einem anderen als dem gängigen Bewusstsein.

Fazit: Aufschlussreich und nützlich.

Byung-Chul Han
Philosophie des Zen-Buddhismus
Reclam, Ditzingen 2022