Der ehemalige Elektriker und angebliche Spross einer jahrhundertealten Adelslinie, 91 Jahre alt, der nicht Majestät, sondern Onkel Józsi genannt werden will, hat genug vom Leben und sich in die Wälder zurückgezogen. Doch dann wird er von einer bunten Truppe vermeintlicher Anhänger aufgespürt, die ihn dazu bewegen wollen, in ihrem Sinne in die Politik einzugreifen. Sie wollen die Monarchie wieder herstellen. Onkel Józsi lehnt ab und meint, sinnvoller wäre, sich auf das Ende der Welt vorzubereiten („das zu Ende des Jahres zu erwarten ist, wie ich in den Nachrichten lese“). Und überhaupt habe er weder Lust noch Energie, um am Leben noch lange teilzuhaben.
László Krasznahorkai schreibt in Bandwürmern, Punkte gibt es in diesem Text nicht, Kommas schon. Abschnitte fehlen, eine nennenswerte Gliederung gibt es nicht (wobei: es gibt 11 Teile), stattdessen endlose Sätze, die einem Gedankenfluss recht nahe kommen, auch wenn ein solcher letztlich viel zu komplex ist, um überhaupt erfasst werden zu können. Es gelingt dem Autor ausgezeichnet, den Leser, jedenfalls diesen Leser, (die Leserin spar ich mir, ich bin ein Mann und kann nicht für Frauen sprechen, und auch nicht für andere Männer) in die Geschichte hineinzuziehen.
Der Adlige zeigt seinen Besuchern (Monarchisten, unter denen sich auch „ein ungeschlachter junger Mann“ namens László Krasznahorkai findet) ein Schwert, das er von der englischen Königin erhalten, und einen Brief von Dschimmi Karter („mit J und C, fügte er hinzu, und in seiner Stimme verbarg sich eine leise Verwunderung, auf welch interessante Weise, nicht wahr, diese Amerikaner die Buchstaben benutzten“) ihm geschrieben hat.
Viel Geschichtliches wird angesprochen, die Habsburger kommen dabei schlecht weg, Auch viel Ungarisches wird einem näher gebracht, wobei wohlmeinende Kritiker ständig auf die quasi universelle Gültigkeit von Krasznahorkai Schreiben hinweisen, wofür sie dann regelmässig die verschiedenen Orte, an denen er lebt bzw. gelebt hat, anführen. Mir selber ist egal, wo ein Roman spielt; für mich sind alle Orte gleichzeitig provinziell und universell.
Es finden sich ganz viele Geschichten in diesem Roman, und nicht wenige von ihnen haben mich schmunzeln lassen. Als etwa Onkle Józsis Schwiegersohn, zusammengeschlagen auf der Intensivstation von Eger, auf die Frage der Polizisten, „was geschehen sei, woran er sich erinnere, und ob er den Angreifer ‚und/oder‘ die Angreifer beschreiben können, nichts sagen konnte, weil er sich einzig und allein daran erinnerte, dass er nichts antworten durfte, wenn die Polizisten ihn dies fragten, weil man ihn dann bei nächsten Mal wortwörtlich totschlagen würde …“.
Ob die Bezugnahmen auf die ungarische Geschichte wahr oder erfunden sind, weiss ich nicht zu sagen, da ich von ungarischer Geschichte keine Ahnung habe; es spielt meines Erachtens auch keine Rolle, handelt es sich bei Zsömle ist weg (Zsömle ist der Hund von Onkel Józsi) um einen Roman, also um etwas Erfundenes. Dass Onkel Józsi „mit Storm geheizt hat“ hielt ich zuerst für einen Druckfehler, als dann jedoch „Storm“ noch weitere Male auftauchte, liess mich das einigermassen ratlos. Ebenso wenig erschlossen hat sich mir, dass Onkel Józsi gemäss eigenen Angaben keine Kinder hat und dann doch von seiner Tochter und seinen Enkeln gesprochen wird. Nun ja, in der Literatur geht eben vieles …
Der Thronfolger fühlt sich zunehmend unverstanden von den Monarchisten, die ihn zwar verehren, doch nicht in der Form, die er für sich gewählt hat. In Budapest zeigen sie ihm in herrschaftlichen Räumen befindliches unterirdisches Waffenlager. Onkel Józsi ist entsetzt, Gewalt lehnt er ab. Doch er liebäugelt eben doch auch mit den sogenannt guten alten Zeiten, „weil heutzutage die Moral als Ganzes“ fehlt. Der Autor zeigt eindrücklich, dass sich beide Seiten, obwohl sie sich viele Gedanken auch über die andere Seite machen, nur von ihren eigenen Interessen geleitet bzw. diesen unterworfen sind.
So sehr Zsömle ist weg eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Gefahren, die der Demokratie durch Reichsbürger und Verschwörungsfans drohen, ist, es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Alter. Vor allem ist es jedoch ein ungewöhnliches Sprach- und Denkerlebnis, das vom Leser Geduld und die Art Aufmerksamkeit verlangt, die einer Meditation gleichkommt.
Fazit: Scharfsinnig, gescheit, amüsant, unterhaltsam, witzig und lehrreich.
László Krasznahorkai
Zsömle ist weg
Roman
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025

